Die Normen des akademischen Zitierens und Bibliographierens sind so streng, weil der Leser das Quellenmaterial lückenlos rekonstruieren und überprüfen können muß.
Im Unterschied z.B. zu Zeitungsessays müssen akademische Arbeiten ausnahmslos alle Texte nennen, die als Quellen benutzt wurden. Dies gilt auch und gerade für theoretische Texte, von denen Sie Begriffe oder Thesen übernehmen, sogar dann, wenn Sie eine vorgefundene These für Ihre Zwecke abwandeln.
Idealiter sollten akademische Arbeiten einem allgemeinen, interessierten Publikum verständlich sein. Nur wenigen Akademikern - wie z.B. Umberto Eco und Hans Blumenberg - gelingt es allerdings, auf hohem Niveau Wissenschaftsprosa für ein breites Publikum zu schreiben. Seminararbeiten sollten wenigstens einem allgemeinen Literaturwissenschaftler-Publikum verständlich sein und sich nicht exklusiv an Spezialisten für eine bestimmte Literatur oder eine bestimmte Theorie richten.
Denken Sie also beim Schreiben von Seminararbeiten nicht nur an den Dozenten und dessen speziellen Wissenshorizont, sondern schreiben Sie so, als wenn Sie Ihre Mitstudenten adressieren. Bemühen Sie sich um eine klare Sprache und scheuen Sie sich nicht vor kurzen Sätzen. Als Studienanfänger glauben Sie leicht, wissenschaftlich schreiben bedeute, vorsätzlich umständlich zu schreiben, und in der Tat geben Ihnen viele wissenschaftliche Publikationen schlechte Beispiele. Sie werden feststellen, daß es viel schwieriger ist, komplexe Sachverhalte auf den Punkt zu bringen, als diese Komplexität beim Schreiben zu imitieren.
(Dieses Gebot küpft eng an ,,Gebot`` Nr.1 an!)
Vorweg: Seminararbeiten sind nur dann gut - und werden von mir auch nur dann mit ,,gut`` oder ,,sehr gut`` benotet -, wenn sie andere Texte nicht bloß zusammenfassen oder digestieren, sondern eigenständige, kritische Lektüren wagen und eigene Thesen formulieren. Daß ,,wissenschaftliche Arbeit`` darin bestehe, z.B. die Interpretation eines literarischen Werks in der Sekundärliteratur möglichst neutral darzustellen, ist ein Irrglauben.
Daß Thesen belegt werden müssen, bedeutet, daß Ihre Arbeit argumentativ geschrieben sein muß, reale und potentielle Gegenargumente berücksichtigt und dabei unzweideutig ausweist, welche Überlegungen von Ihnen stammen und welche Sie von anderen Quellen übernehmen. Bei Ihrer Argumentation gilt. Differenzierung und Sensibilität sind die höchsten Tugenden literaturwissenschaftlicher Arbeit. Hüten Sie sich, so gut es geht, vor pauschalen Feststellungen (wie etwa.: ,,John Donnes Nocturnall upon St. Lucie's Day ist ein barockes Gedicht. Es zeichnet sich durch übersteigerte Metaphern aus, wie sie für Barockdichtung typisch sind``). Natürlich sind Verallgemeinerungen in der Praxis unvermeidlich. Wenn Sie also verallgemeinern, explizieren Sie dies, indem Sie zum Beispiel schreiben, daß Ihnen Ihre Arbeitshypothese X für Ihre Darstellung nützlich scheint, Sie sich aber bewußt sind, daß es die Gegenthesen Y und Z gibt.
Als Literaturwissenschaftler lesen wir jeden Text als etwas Konstruiertes. Dies gilt für einen Roman oder ein Gedicht ebenso wie für eine historische oder religiöse Quelle - und nicht minder für philosophische und literaturtheorische Texte.
Eine These ist nicht selbstevident und automatisch ,,wahr``, nur weil sie ein anderer, vielleicht prominenter Literaturwissenschaftler oder -theoretiker aufgestellt hat. Zitieren Sie Theoretiker nicht als scholastische Autoritäten, die Ihre Lektüre (vermeintlich) legitimieren. Theorien sind ,,Sichtweisen`` [theoria, gr.-lat. für ,,die Betrachtung``], die Sie dazu anregen, einen neuen Blick auf ein Thema zu gewinnen und Ihren eigenen Standpunkt zu überdenken, womöglich sogar radikal. Theorien und Theoretiker sind aber nicht dazu da, stellvertretend für Sie zu denken.