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Vorläufige Systematik poetischer Rekursionen
Florian Cramer
Sommersemester 1999
1 Formen der
Rekursion
- ,,Seltsame Schleifen"
...in denen Objekt- und Metaebene ineinanderfließen
oder oszillieren.
- ,,Zuträgliche Schleifen"
d.h. in endlichen Schleifen mit einer Abbruchbedingung,
wie z.B.
- ,,Begrenzte Schleifen"
- Im Hung Lo Mong: Die Begegnung Pao
Yüs mit seinem Doppelgänger im Traum; die
Zofen unterbinden die ,,seltsame Schleife", indem
sie den Spiegel aus Pao Yüs Schlafzimmer
entfernen.
- ,,Freie Schleifen"
Operationen, die zwei Wege erlauben: Einen
wiederholten Aufruf ihrer selbst oder den Ausgang aus dem
System. Daß die Schleife abgebrochen wird, ist
(statistisch) wahrscheinlich, aber nicht gesichert. Wenn
der Abbruch nicht gelingt, tritt ein ,,regressus ad
inifinitum" (s.u.) ein.
- Der Traum von Alice in Through the
Looking-Glass (wenn man den Appell an den Leser,
das Paradox selbst aufzulösen, als -
mögliche, aber nicht erzwingbare -
Abbruchbedingung interpretiert)
- ,,regressus ad infinitum"
Eine unendliche Schleife ohne Abbruchbedingung.
- Chuang-Tzus Schmetterlings-Traum [Tzu64]
- Das Epimenides-Paradox der lügenden Kreter (s.
[Qui62])
- Eschers Lithographie der sich wechselseitig zeichnenden
Hände (s. [Var81]
- Multiple Selbstverschachtelung
...durch wiederholte Schaffung von Sub-Ebenen
- ,,Zuträgliche Schleifen"
- ,,Begrenzte Schleifen"
- Alvin Lucier, I am sitting in a room; die
Tonbandschleife wird abgebrochen wird, sobald das
Gesprochene unverständlich ist.
- In Borges' Garten der Pfade, die sich
verzweigen [Bor94]: der fiktive Roman
Ts'ui Pêns. Da er ein ,,Roman" ist,
bleibt er trotz seiner Abundanz endlich.
- ,,Freie Schleifen"
- Das zweite ,,Recursive Transition Network"
(RTN) in Hofstadter, Gödel, Escher, Bach
[Hof79]
- ,,regressus ad inifinitum"
- John Barth, Frame-Tale [Bar68]
- Das Lied vom Mops in der Küche (u.a. in Samuel
Beckett, En attendant Godot)
- Multiple Selbstentschachtelung
...durch wiederholte Schaffung von Meta-Ebenen. Hier gilt
dieselbe Systematik wie für 1. und 2., es fehlen allein
Beispiele.
2 Direkte und
indirekte Rekursion
Alle drei genannten Formen der Rekursion können zu
,,Heterarchien" (Hofstadter) ausgebaut werden, d.h. zu
indirekten Rekursionen, in der sich mehrere Operationen wechselseitig
festlegen. Die ,,seltsame Schleife" setzt mindest zwei solcher
Operationen voraus. Beispiele:
A verweist auf B, B verweist auf A
A verweist auf B, B verweist auf C, C verweist auf A.
(usw.)
3 Behauptungen
Varela [Var81]: Jeder unendliche Regreß kann
vom Standpunkt des Beobachter aus relativiert und als endlich bzw.
räumlich begrenzt beschrieben werden
(Frage: Gibt es Rekursionen, die in sich so komplex sind,
daß ihre Beschreibung nicht mehr gelingt? Gibt es Rekursionen,
die den Beobachter an seinem Standpunkt verunsichern und deshalb
absorbieren?)
Hofstadter: Verwickelte Schleifen sind Software-Phänomene
und betreffen die darunterliegende Hardware (Computer, Neuronen, den
Zeichner Escher) nicht.
(Frage: Wie vereinbart sich diese These z.B. mit
selbstverursachter Körper-/Bewußtseinsmanipulation?)
Literatur
- [Bar68]
-
Barth, John: Lost in the Funhouse . New York, London,
Toronto, Sydney, Auckland : Doubleday, 1988 (1968) (Anchor Books)
- [Bor94]
-
Borges, Jorge L.: Fiktionen . Frankfurt a.M. :
Fischer Taschenbuch Verlag, 1994
- [Hof79]
-
Hofstadter, Douglas R.: Gödel, Escher, Bach .
12. Stuttgart : Klett-Cotta, 1989 (1979)
- [Qui62]
-
Quine, W.V.: Paradox. In: Bartlett, Steven J. (Hrsg.):
Reflexivity. A Source-Book in Self-Reference .
Amsterdam, London, New York, Tokyo : North-Holland, 1992 (1962),
S. 21-35
- [Tzu64]
-
Tzu, Chuang: Basic Writings . New York : Columbia
University Press, 1964
- [Var81]
- Varela, Francisco: Der kreative Zirkel. In: Watzlawick, Paul
(Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit . München,
Zürich : Piper, 1994 (1981) (Serie Piper), S. 294-309