Das einzigartige Buch des Acumens und der Argutia

Kazimierz Maceij Sarbiewski (Übersetzung: Florian Cramer)

in dem am Beispiel
Senecas und Martials
Epigramme, Schmuck der Rede1und zierreiches Schreiben behandelt werden
Jedem nützlich, der lernen will, scharfsinnig zu schreiben und zu reden

Zur Übertragung:

Ich habe das Wort ,,acumen`` im Lateinischen belassen, um seine Doppelbedeutung - ,,Scharfsinn`` und ,,Schwertspitze`` - zu erhalten ,,Acutus`` ist i.d.R. als ,,zugespitzt`` wiedergegeben. Die ,,Argutia`` definiert Sarbiewski im letzten Kapitel seines Traktats als schmuckreichen Ausdruck, der durch eine Vielzahl von Tropen oder dialektischen Verfahren konstituiert werden kann und somit als das irreguläre Komplement des ,,acumen`` funktioniert.
[FC]

Kapitel 2,
in dem die lehrsätze über das Wesen des acumen einander angeglichen werden

Nachdem ich also alle griechischen und lateinischen Autoren gründlich gelesen hatte, die Acumen und schmuckreiche Rede in ihren Werken fortzuentwickeln suchten, und dieses Problem jedesmal ausgiebig mit den gelehrtesten Männern in Polen, Deutschland, Frankreich und Italien erörterte, ist dies die wahre und von meinen Kollegen anerkannte Definition des Acumen:

Das Acumen ist eine Rede, in der unstimmige [,,dissentanei``, wörtlich: einander widerstrebende] und stimmige [,,consentanei``, einander zustrebende] Anteile zusammentreffen, sei es in einträchtiger Zwietracht oder in zwieträchtiger Eintracht des Gesagten.

Wie zuvor zu diesem Wesen des Acumen versuche ich nun, den Anfänger anhand eines Vergleichs so klar wie möglich weiterzuführen.

I

Ein mathematisches oder körperhaft konstruiertes Acumen ist nichts anderes als ein Dreieck, der Zusammenlauf zweier Schenkel, ihre Verbindung und ihr Aufeinandertreffen in einem gemeinsamen Schnittpunkt, also das, was wir an Keilen, Schwertern und Pfeilen beobachten, die wir scharf (acuta) nennen. Aus ihnen entsteht das Acumen als eine Spitze, die wir wiederum selbst Acumen nennen, und deren Form von zwei zusammenlaufenden, sich gegenüberliegenden Schenkeln gebildet wird; zuerst scheinen sie einander entgegengesetzt und widersprüchlich zu sein, doch langsam und allmählich kommen sie einander entgegen, streben gewissermaßen aus dem gemeinsamen Fundament hervor, bis sie innig zu einer Spitze zusammenwachsen.

Gleichermaßen zugespitzt ist das Rhetorische, denn die einfache Darlegung (expositio) der Dinge und des Erzählstoffs bildet ein gewisses Fundament, oder eine Grundlinie, die Basis genannt wird. Aus ihr entspringen wie aus einem Fundament zwei gegenüberliegende Stränge, von denen der eine etwas enthält, das mit dieser Materie stimmig ist, und der andere etwas, das nicht mit ihr stimmig ist. Um ein Acumen zu bilden, müssen Stimmiges und Unstimmiges aufeinander treffen und so zusammengehn, daß sie vom selben Fundament gestützt werden. Also scheint der eine Strang klar von der Materie - oder Basis - zu differerien, während der andere klar mit ihr übereinstimmt oder zumindest vorzugibt, mit ihr übereinzustimmen. So, wie das mathematische und konstruierte Acumen in der Vereinigung zweier unterschiedlicher Schenkel besteht, die gegeneinander aus einem Dritten hervorwachsen, so besteht auch das rhetorische Acumen notwendig in der Vereinigung und Affinität eines unstimmigen und eines stimmigen Strangs, die beide derselben Materie hervorgegangen sind, jener nämlich, die der Rede zugrundeliegt.

Die verschiedene Arten des Acumen seien Ihnen hier in Schaubildern vor Augen geführt:

Der Pfad für die Abbildung ist leer!

Wieso kann ein hungriger Löwe seine Beute verschonen?
Weil Du es ihm befohlen hast: also kann er es.

Sehr deutlich geht dies aus Martials Beispiel des kaiserlichen Löwen hervor, der trotz seines Hungers die Hasen, die in seinem offenen Maul herumlaufen, lebendig, wenn auch blutend, zurückläßt. Hier erkennen wir vier Elemente, in denen allesamt das Acumen verankert ist:

  1. Die Materie selbst, über die scharfsinnig zu schreiben der Dichter sich vornimmt, wie etwa ein Löwe, der Hasen verschont. Sie steht am Anfang, - siehe Schenkel A.
  2. Das widerstrebende Moment, das bereits in der Materie angelgt ist; daß nämlich ein hungriger Löwe seine Beute verschonen könne, die er schon gefangen und fast hinuntergeschluckt hat. Dies kommt im ersten kleinen Schlußvers zu Ausdruck:
    Wieso kann ein hungriger Löwe seine Beute verschonen?

    - siehe Schenkel B.

  3. Auch das stimmige Moment ist in der Materie enthalten, und zwar darin, daß dieser Löwe kein gewöhnlicher ist, sondern einer, der vom Cäsaren gezähmt und am Blutvergießen gehindert wurde. Demnach steht es dem Löwen zu, seinem Herrn zu gleichen. Dies geht aus folgenden Worten hervor:
    Weil Du es ihm befohlen hast:

    - Schenkel C.

  4. In der Vereinigung, der Übereinkunft des Unstimmigem und des Stimmigen, liegt selbst ein Moment der Zuspitzung, da es ja tatsächlich dazu kommt, daß der hungrige, wiewohl kaiserliche Löwe seine Beute geschont hat. Dies geht aus folgenden Worten hervor:
    Also kann er es.

    - im Punkt D.

II

Unsere Art, die Definition des Acumen zu untersuchen, wird sowohl dessen Wirkung, als auch dessen Eigenart gerecht. Wirkung und Eigenart des Acumen sind also, Verwunderung (admiratio) und Ergötzen (delectatio) der Zuhörerschaft einhergehen zu lassen. Fürwahr entsteht Verwunderung aus dem Unerwarteten, daraus, daß wir nie etwas erwarten können, dessen Ursache uns verborgen gewesen ist und wir demgemäß nicht vermutet hätten, daß es geschehen könne. Denn wie Aristoteles lehrt, entsteht Verwunderung stets aus Unkenntnis der Ursachen. Wenn diese Verwunderung jedoch mit Ergötzung einhergeht (wie stets, wenn uns etwas scharfsinnig erscheint, denn wir bewundern, was ergötzt), muß es andererseits offensichtliche Gründe für diese Verbindung geben, die nahe jenem verborgen liegen, das wir geschehen sehen, da wir nicht vermuten konnten, was sich ereignen würde. So, wie eher das Unstimmige Verwunderung erregt, weil wir aufhorchen, wenn etwas Unstimmiges geschieht, so ergötzt uns eher das Stimmige, denn sobald wir Dinge, von denen die Rede ist, unstimmig finden, sehen wir, daß sie zugleich stimmig sind. Die Verbindung von Verwunderung und Ergötzung entsteht demnach aus der Verbindung von Unstimmigkeit und Stimmigkeit.

Daß dies, obwohl es bereits einsichtig sein sollte, zudem wahr ist, bleibt noch zu prüfen. Daraus, daß sinnliches Vergnügen und gewisse Spielarten der Weitläufigkeit, Zerstreuung und Verschwendung auf Abwechslung angewiesen sind, um sich zu auszudehnen, zerstreuen und auszuströmen, folgt, daß auch dem Acumen, so denn es uns ergötzt, ein Moment der Mannigfaltigkeit zugrundeliegen muß, und zwar in jener Einheit, die zugleich als zerstreuender Geist und sich ausdehnende Vielheit beschrieben werden könnte. Und da wir uns am Acumen nicht teilnahmslos, sondern mit Bewunderung erfreuen, kommt seine Mannigfaltigkeit einerseits durch etwas schon Bekanntes zustande, andererseits durch etwas, das ihm zwar vorausgeht, aber gewissermaßen unbekannt bleibt. Würde alles bereits bekannt sein, so käme die Wendung nicht unerwartet und würde demgemäß weder verwundern, noch ergötzen. Daraus folgt, daß ein Teil dieser Vielheit zuvor bekannt sein muß, wie etwa die Gewohnheiten eines hungrigen Löwen, ein anderer hingegen unbekannt, wie ein hungriger Löwe, der, obwohl er dem römischen Kaiser gehört, Sanftmut walten läßt. Weshalb aber ein hungriger Löwe, ob hungrig oder weil er nunmal ein Löwe ist, zahm sein kann, muß verborgen bleiben. Ja, jeder Gegensatz muß zuerst erklärt und erkannt worden sein, entweder ausdrücklich oder implizit, denn dies ist das Element des Unstimmigen, das zuerst erkannt werden muß, im ersten Teil unseres Beispiels:

Wieso kann ein hungriger Löwe seine Beute verschonen?

Der zweite Teil ist nur aus seiner Abfolge heraus verständlich, denn alles, was in ihm gesagt wird, kommt unerwartet:

Weil Du es ihm befohlen hast:

Merke jedoch, daß nicht immer das Unstimmige zuerst aufgefaßt werden muß und danach erst das Stimmige, sondern daß auch erst das Stimmige und schließlich das Unstimmige erkannt werden kann. Ein Acumen ist nämlich, wie bereits gesagt, eine Annäherung von Unstimmigem und Stimmigem, ob nun das eine vorangeht oder das andere vorab oder später bekannt wird. Die Vereinigung beider kann gleichermaßen einträchtige Zwietracht wie zwieträchtige Eintracht genannt werden. Also etwas, das viele offensichtlich nicht zu erkennen vermögen. Deshalb, um wieder von vorne zu beginnen, ist die Ursache von Verwunderung und Ergötzen einerseits das Unerwartete, das einer Sache widerfährt, andererseits das schon Erwartete; so daß Überraschung und Bestätigung sowohl im vorhandenen, fast objektiv zu Erwartenden als auch - wie bereits erwähnt - im nicht zu Erwartenden begründet sind, in jenem Moment also der Verbindung von Unstimmigkeit und Stimmigkeit. Oft fordert ein Ausdruck unser Denkvermögen plötzlich heraus, dann nämlich, wenn etwas Unvorhergesehenes geschieht, oder zumindest das Vorhergesehene nicht geschieht, was unser Erstaunen weckt. Tritt aber aus irgendeinem Grund statt des Unstimmigen etwas Stimmiges auf, ergötzt uns der Ausdruck weiterhin, weil er gewissermaßen jeden der beiden Teile hervorhebt, sich in ihnen aufhebt, und in ihrer wunderbaren Zusammenkunft geeint wird, selbst wenn zuvor erwartet wurde, daß etwas Widersprüchliches auftreten werde, dann aber etwas Stimmiges auftritt, oder umgekehrt. Die Frucht dieser Verschiedenheit gedeiht in der Übereinkunft beider:

Also kann er es.

Merke aber, daß es nicht erforderlich ist, das Unstimmige und das Stimmige selbst vorab zu kennen, sondern lediglich den Zusammenhang oder das Fundament, da sich das Stimmige sich zum Unstimmigen so verhält, daß sobald eins erkannt wird, das andere seinem Wesen nach latent vorliegt und somit nicht erkannt werden muß. Deshalb ist das Erkennen selbst sowenig erforderlich wie jenes formal definierte Element des Unerwarteten, auf das Pater Petavius2 abzuheben schien. Der Beweis ist, nach tausendfacher Lektüre zugespitzter Epigrammschlüsse, daß auch ein Schluß wahrhaft zugespitzt sein kann, der etwas Bekanntes, schon öfter Erwogenes enthält, ob in seinem unstimmigen oder in seinem stimmigen Anteil, und selbst dann, wenn uns einer dieser beiden nicht überrascht. Also liegt die Essenz des Acumen nicht darin, form- und wirkungsgemäß [formaliter et actualiter], sondern aus der Möglichkeit und dem Zusammenhang heraus [virtualiter et fundamentaliter] unerwartet zu sein. Das der Möglichkeit und dem Zusammenhang gemäß Unerwartete ist jedoch nichts anderes als die Verbindung von Unstimmigen und Stimmigen. Dies nämlich ist der letztliche Grund, weshalb uns etwas unerwartet scheinen kann, selbst wenn es sich an einen Gegenstand heftet.

Dies ist meine altbekannte These zum Wesen des Acumen, der alle Gelehrten zustimmten, die meiner diesbezügliche Rede in Rom gehört hatten, sowie in vielfachen Briefen Pater Bauhusius,3 Pater Raderus,4 Pater Caussinus, Pater Cornelius Hugo in seinen Briefen an unsere belgischen Brüder, und besonders auch Famianus Strada, Johannes Baptista Serranus, der seinen Redekunst nunmehr mit dem Acumen angereichert hat, Pater Petrucius, Alexander Donatus und Franciscus Guinisius.


Footnotes:

1Coloribus declamationis: Amplifikation durch rhetorischen Schmuck. Nach Lausberg im engeren Sinne die ,,parteiische Färbung eines objektiven Sachverhalts, besonders im verkleinernden (mildernden, rechtlich verharmlosenden) Sinne``. Heinrich Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik, Ismaning 1963, S. 36

2Anm.: Dénis Peteau

3Anm.: Der jesuitische Lyriker Bernhard von Bauhuysen

4Anm.: Der jesuitische Rhetoriklehrer Matthias Rader