Rosa Einhörner

Florian Cramer

“Outside the gates of heaven
Oh, there lives a unicorn
I close my eyes to seven
Oh, this world is not my home.”
(Modern Talking, In 100 Years [1987])

Einhorn-Momentaufnahme

Sucht man im Jahr 2018 die Wörter “unicorn” oder “Einhorn” mit Googles Image Search, zeigt sich die Veränderung des Fabeltiers gegenüber früheren Jahrhunderten: Fast immer ist es weiß oder pastellfarben, hat regenbogenfarbiges Haar, ist im Manga-Stil mit kindlich-niedlichen Attributen gezeichnet oder computergerendert. Die Bildkultur des Einhorns umfasst sowohl viral-anonym verbreitete und -variierte ‘Meme’-Bilder in sozialen Medien,1 als aus Kaufprodukte: Einhorn-Schreibwaren, Einhorn-Spielzeuge, Einhorn-Kleidung und -Bettwäsche, Einhorn-Kindermöbel, Einhorn-Gummiboote. Man kann Einhörner essen, seitdem der Fleischwarenhersteller Puttkammer im Jahr 2017 eine knallrosa gefärbte “Einhorn-Bratwurst” auf den Markt brachte, verpackt mit einem regenbogenfarbigem Schriftzug sowie einem gezeichneten, rosa-weißen, vor einem Regenbogen stehenden Einhorn. Laut Puttkammers Firmensprecher hatte man sich durch die Tatsache inspirieren lassen, dass es in Supermärkten “alles nur noch mit Einhörnern” gegeben habe, einschließlich “Schokolade, Saft, Kekse”;2 wie zum Beispiel die Ritter Sport Einhorn-Schokolade, eine rosa-weiße Tafel, auf deren rosa Verpackung ein gezeichnetes rosa-weißes Einhorn vor einem Regenbogen steht, neben dem abgewandelten Werbemotto der Marke, “Quadratisch. Magisch. Gut.” statt “Quadratisch. Praktisch. Gut”.

Die Schokoladenverpackung konserviert damit die kulturelle Konstante des Einhorns in seinem Wandel vom mythischen Tier von Antike und Mittelalter zum pastell- und regenbogenfarbigen Internet-Meme: seine Bedeutung als magisches Wesen. Sie verbindet sich perfekt mit dem populär-subkulturellen, halbironischen Konzept der “Meme Magic”, demzufolge Internet-Memes magische Symbole sind, mit denen sich unter anderem Politik beeinflussen lässt, wie zum Beispiel im “Meme War” für Donald Trump 2016. Einhorn und Meme-Kultur sind Verwandte, die einander gefunden haben und deren Zusammenschluß auf der Hand liegt.

Allerdings beschränkt sich das heutige rosa Einhorn, wie Wurst und Schokolade beweisen, weder auf Bilder, noch aufs Internet.

In den USA begann der Einhorn-Lebensmitteltrend im Jahr 2016, als die Food-Bloggerin Adeline Waugh mit Farbpigmenten knallbunte, abstrakte Formen auf Frischkäse-Toastbrote malte, Fotos davon im sozialen Netzwerk Instagram teilte, wo sie als “unicorn toasts” die Runde machten.3 Das historisch junge Phänomen des regenbogenfarbigen Einhorns hatte sich damit verselbständigt: Die Regenbogenfarben waren (in metonymischer Verschiebung) nicht mehr nebensächliches Attribut, sondern hauptsächliches Identifizierungsmerkmal geworden und überflügelten das namengebende Horn des Einhorns. Ein Jahr später folgte der Konzern Starbucks mit seinem Unicorn Frappucino, einem rosa-weißem Cremegetränk, im rosa Becher mit darauf gezeichneter Kontur eines Pferdekopfs, den der Strohhalm des Getränks zum Einhorn aufbohrte.

An diesen Beispielen zeigt sich, wie Produkttrends heute als Memes und visuelle Populärkultur in sozialen Medien entstehen.4 Jedoch sind diese Memes selbst Pastiches - Kopien, Variationen und Mutationen - älterer populärer Bilder und Produkte, die außerhalb des Internets entstanden sind.

Im Jahr 2013 trat der Popstar Miley Cyrus im Einhorn-Pyjama auf, in Musikvideos sowie in der Öffentlichkeit. Damals feierte sie ihren Durchbruch als erwachsene Popsängerin, die ihre Vergangenheit als Kinderstar des Disney Channels mit einem neuen, radikal sexualisierten Image abgestreift hatte. Es schloss kontroverse kulturelle Aneignungen des afroamerikanischen twerking ein5 und gipfelte 2015 in einer vom umstrittenen Fotografen Terry Richardson geschossenen, semipornografischen Fotoserie.

2014 und 2015 traten die Popstars Ariana Grande und Katy Perry im selben Einhorn-Pyjama auf, das Cyrus getragen hatten. Alle drei Sängerinnen positionieren sich feministisch und sex positive, Cyrus als selbstbeschriebene “gender-neutrale, sexuell fluide” Person, Perry als LGBT-Unterstützerin, Grande als Kritikerin konservativer Geschlechterrollen in der Musikindustrie. Mit ihren Einhorn-Kostümierungen praktizieren sie “Cosplay”, die aus der japanischen Popkultur stammende Verkleidung als Comic-, Film- oder Videospielfigur im öffentlichen Raum.

Genretypisch verbindet Cyrus’, Perrys und Grandes Cosplay Magie mit Verkindlichung und Verniedlichung. In der Summe ergibt dies Märchenhaftigkeit, im oberflächlich geglätteten Sinne der Disney Corporation, für die alle drei Sängerinnen gearbeitet haben. Zwei weitere Attribute des heutigen, pastell-regenbogenfarbigen Einhorns werden im Cosplay sichtbar: Erstens sexualisiert es das Einhorn - und tarnt dies zugleich durch Verniedlichung. Zweitens zeigt sich an ihm die Geschlechtsspezifik der heutigen Einhorn-Popkultur. Pastell- und Regenbogenfarben stehen traditionell für homosexuell-queere Kultur. Das im Einhorn-Cosplay auf die Stirn geschnallte Horn ist eng verwandt mit Stirn-Umschnalldildos, wie sie vor allem in der Schwulenszene verbreitet sind. Die rosa Einhorn-Bildkultur eignet sich diese Stilelemente als vermeintlich weiblich-mädchenhaft-heterosexuelle Insignien an, deren Geschlechtszuschreibung oberflächlich so konservativ bleibt wie rosa Babykleidung.

Darin schließt die heutige Einhorn-Popkultur scheinbar bruchlos an spätantike Mythologie an, derzufolge Einhörner nur von Jungfrauen eingefangen werden können. Das rosa-regenbogenfarbige Einhorn ist in der Summe seiner Attribute magisch und kindlich, cisgender-weiblich und queer, phallisch und fluide. Seine Perversion ist polymporph sowie kindlich-weibliches Privileg. Die Einhorn-Anzugträgerin kann spielerisch fließen zwischen Sexualität und Asexualität, Kind- und Erwachsensein, Mensch-, Tier- und Dingsein, Oralfixierung, phallischer, vulvarer, hermaphroditischer und allen sonstigen Genitalität, zwischen cis und trans, auto- und polysexuell.

Vergleicht man das spätantike Bild der Jungfrau und des Einhorns mit den Popsängerinnen im Einhornkostüm, so dominiert im älteren Bild die Paarbeziehung und im neueren die Autoerotik. Das Urban Dictionary definiert passend hierzu die Slang-Bedeutung von “Unicorn” als “that girl that you can’t catch. Everything about her is so perfect (divine, if you will) getting with her is unfathomable. […] But never give up; unicorns are said to be ‘uncatchable,’ but nothing is impossible”.6 Hier drehen sich die Geschlechterrollen um: Nicht mehr ist das Einhorn ein phallisch konnotiertes Tier, das durch eine Jungfrau einfangen wird, sondern es ist eine jungfräulich konnotierte Frau, die fast unerreichbar ist für den heterosexuellen Mann. Diese Bedeutung bleibt auch bei Cyrus, Perry und Grande implizit erhalten: Sie praktizieren autoerotisches, verniedlichtes cocooning im Einhorn-Pyjama, das sowohl polymorph-sexuell ist, als sich auch unschuldig gibt. Darin, dass das Einhorn diese Gegensätze vereinigen kann, liegt seine magische Kraft.

Dabei vermengt sich das oft Einhorn mit ihm verwandten Tieren, fantastischen wie realen: dem Pegasus, dem weißen Pferd und dem Pony. 2015 verbreitet der Popstar Taylor Swift via Instagram ein Foto von sich in einem Pegasus-Gummiboot. Mit schneeweißem Körper sowie goldener Mähne und Schweif war dieser Pegasus den heutigen Einhörner eng verwandt. (Als Folge davon tauchten im Sommer 2018 Einhorn-Aufblasboote als Aktionsprodukt in mehreren Handelsketten auf.7) Das Einhorn gehört somit zu einer größeren Gattung des Pferds (und pferdeähnlicher Wesen) als Gegenstand kindlicher und jugendlicher, weiblich stereotypierter Erotik. Im Gegensatz zum gewöhnlichen Reitpferd ist das Einhorn jedoch magisch, daher nicht an bestimmte Orte gebunden und kann - unter anderem als intime Kleidung, Speise, Sexspielzeug und Tätowierung - buchstäblich einverleibt werden.

Im 19. Jahrhundert differenzierte der Anthropologe James George Frazer “imitative” Magie, zum Beispiel im Nachahmen eines starken Tiers, von “ansteckender” Magie wie dem Tragen eines Tierzahns als Talisman an der Haut.8 Diese Unterscheidung machte der Linguist Roman Jakobson später zur Grundlage seiner Neudefinition von (imitativer) Metapher und (kontiguitiver) Metonymie.9 Die zeitgenössische Einhorn-Popkultur ist imitativ-magisch und ansteckend-magisch zugleich, metaphorisch und metonymisch: Einhorn-Pyjamas, -Würste, -Boote, -Tätowierungen und -Dildos sind sowohl Einhorn-Imitationen, als auch am Körper getragene oder in den Körper einverleibte An-Steckungen. Dies gilt selbst für die (vermeintlich) körperlosen Einhorn-Memes, die sowohl Abbildungen von Einhörnern sind, als auch ansteckend in ihrer viralen Verbreitung.

Einhorn-Rückblick

Dass die heutige Einhorn-Bildkultur japanische Manga-Ästhetik verwendet, ist kein Zufall. Das erste moderne, verniedlichte Pastell-Einhorn, Unico, wurde 1976 von Osamu Tezuka als Hauptfigur einer gleichnamigen Kinder-Comicheftserie gezeichnet, mit hellblau-weißem Körper, rosa Haar und Schoßhund-ähnlichen Proportionen. Damit ähnelte Unico auffallend der Comicfigur Kimba, der weiße Löwe, die Tezuka zuerst in den 1950er Jahren gezeichnet hatte und die Hauptfigur einer gleichnamigen Zeichentrickserie war, die seit den 1970er Jahren unter anderem im ZDF-Kinderprogramm ausgestrahlt wurde.

Das heutige Regenbogen-Einhorn entstand in den frühen 1980er Jahren, möglicherweise von Unico inspiriert, in der Firma der amerikanischen Illustratorin Lisa Frank. Seitdem hat es sich in Form und Farbe nur unwesentlich verändert. Auch viele Internet-Einhorn-Memes sind Lisa Frank-Einhörner oder Lisa Frank-Einhorn-Mutationen mit nachträglich darübergelegtem Text. Lisa Frank Incorporated wuchs in den 1980er und 1990er Jahren zu einer der größten amerikanischen Marken für Schulbedarf und Einrichtungsgegenstände für Kinder und Teenager. Besonders populär waren ihre Schnellhefter mit aufgedruckten, in verwestlichtem Manga- und Kinderbuch-Fantasy-Stil gezeichneten Einhörnern, Pferden, Katzen, Kaninchen, Rehen, Eisbären, Seehunden, Pandabären, Leoparden, Clowns in schrillen Pastell- und Regenbogenfarben und naiv-psychedelischen Bildkompositionen. Alle Lisa Frank-Produkte wurden schon in den frühen 1990er Jahren am Computer gezeichnet und nahmen in ihrer digitalen Buntheit die Ästhetik der Internet-Meme-Bildkultur vorweg.

Motivisch und bildästhetisch verwandt war die Figur My Little Pony, die der Hasbro-Konzern 1982 zunächst als Spielzeug auf den Markt brachte; ein pastellfarbenes, im Manga-Stil gezeichnetes, kindlich-verniedlichtes Pony in verschiedenen Inkarnationen, von denen eine - “Rainbow Dash” - einen hellblauen Körper und regenbogenfarbige Mähne und Schweif aufweist. My Little Pony wurde zur Marke ausgebaut und für unzählige Erzeugnisse lizenziert. In ihrem 2017 erschienenen Buch Ponyville Confidential: The History and Culture of My Little Pony untersucht die Sachbuchautorin Sherilyn Connelly die “weiblichen Stereotypen und Ängste vor Weiblichkeit, mit denen das Lizenzprodukt seit den 1980er Jahren belastet war”.10 Auch in der heutigen Fernsehwerbung für My Little Pony-Produkte treten nur Mädchen im vorpubertären Alter auf.

Im Netzforum 4chan, das 2003 als anonymes Manga- und Anime-Fanmedium enstand und zum Brutplatz der Internet-Meme-Kultur und der maskierten Anonymous-Bewegung wurde, wurde das 2010 erschienene Computerspiel Robot Unicorn Attack populär und zog zahllose Memes und Fan-Comics nach sich. Im selben Jahr eskalierten auf 4chan die “Pony Wars” zwischen männlichen My Little Pony-Fans und -Hassern. Eine Rolle spielte hier auch die männlich-sexuelle Aufladung von My Little Pony in der auf 4chan stark präsenten “Furry”-Subkultur, deren Teilnehmer sich als pelzige Cartoontiere verkleiden und diese oft auch sexuell fetischisieren. Die “Pony Wars” endeten in der Auslagerung von My Little Pony-Memes und -Postings in ein spezialisiertes Unterforum “/mlp”. Darüber hinaus waren sie Vorbote des Entstehens militant frauenfeindlicher, weiß-rassistischer und rechtsextremistischer Subkulturen auf 4chan. Ab 2014 wurde 4chan zum Labor und zur Operationsbasis der “Alt-Right”, die im Jahr 2016 ihren “Meme War” für Donald Trump und amerikanische Neofaschisten führte.

Lisa Frank-Produkte und My Little Pony waren vor allem in den USA, Südamerika und den Philippinen populär. Erst ab 2010 wurden My Little Pony-Erzeugnisse in größerem Umfang in Europa vertrieben. Möglicherweise war dies bereits eine Folge der Bild- und Memekultur des Internets. Lisa Frank Inc. erreichte seine höchsten Umsatzzahlen in den späten 1990er Jahren. Danach geriet die Firma in eine Existenzkrise durch die Scheidung des Gründerpaars Lisa Frank und James Green. Beiden wurde Kokainsucht und Ausbeutung ihrer Mitarbeiter vorgeworfen. Die bei Lisa Frank angestellten Illustratoren verpassten der Firma den Spitznamen “Rainbow Gulag”.11

Lisa Frank-Produkte bilden nicht nur das historische Bindeglied zwischen “Unico”-Mangas und Internet-Memes. Sie verkörpern auch die verlorene Kindheitsästhetik der in den 1980er und 1990er Jahren geborenen amerikanischen “Millennial”-Generation.

Der Bedeutungswandel des Einhorns in dieser Generation zeigt sich am Vergleich zur älteren, ebenfalls amerikanischen Subkultur des Invisible Pink Unicorn (IPU). Es entstand 1990 im Internet-Forum alt.atheism als parodistische Anti-Religion ähnlich dem bekannteren “Flying Spaghetti Monster”. Das sowohl unsichtbare, als auch rosafarbige Einhorn verkörpert als Fabel und logische Unmöglichkeit, was der Atheist Richard Dawkins später “Gotteswahn” nannte. Sein gleichnamiges Buch führt das “unsichtbare, untastbare, unhörbare Einhorn” als Beispiel für nicht-widerlegbare Hypothesen in Glaubenssystemen auf.12 Während das Invisible Pink Unicorn Einhörner zu überkommenem Aberglauben und Kitsch stempelte, erlebte Einhorn-Magie in den Regenbogen-Einhörnern der 2000er Jahre eine Renaissance, wenn auch halbironisch abgemildert als popkultureller Camp.

In Deutschland und Teilen Europas ist die Ästhetik der Einhörner, fliehenden weißen Pferde, Regenbogen und computergerenderten Prismen, Spiegel- und Glasoberflächen spezifischer für die zweite Hälfte der 1980er Jahre, unter anderem in der Covergestaltung und den Musikvideos des Popschlagerduos Modern Talking (u.a. für die LPs The 2nd Album und Romantic Warriors, die Single Brother Louie sowie die Computereffekte des Musikvideos Geronimo’s Cadillac). Hier ist das Einhorn Traumkitsch von der Resterampe der europäischen Romantik.13 Zugleich imitiert Modern Talkings Grafik- und Mediendesign amerikanische Film- und Fernsehästhetik seiner Zeit, vor allem die damals stilbildende Serie Miami Vice.

Einhorn-Populismus

Die Ästhetik von Miami Vice & Co. wird ab 2010 in der musikalischen und visuellen Subkultur des Vaporwave wiederbelebt. Vaporwave-Musik imitiert 80er Jahre-Synthesizerpop im Eurodisco-Stil von Giorgio Moroder, Modern Talking und anderen, in größtenteils pseudonym oder anonym produzierten, oft übers Internet gratis verteilten Instrumentalstücken. Vaporwave-Computergrafiken zirkulieren in denselben Kanälen wie Memes und bestehen aus visuellen Versatzstücken von 80er Jahre-Computerspielen, 90er Jahre-Microsoft Windows-Bedienelementen, computerberechneten Spiegeleffekten und Lisa Frank-ähnlichen Regenbogen- und Tierfiguren. In der Summe ergeben sie eine Camp-Version der metallic-pastelligen Bildsprache der 80er-Jahre-Popkultur. Einhörner sind in Vaporwave-Bildern häufig anzutreffen, fast immer pastell- und regenbogenfarbig gestaltet und visuell oft abgeleitet von My Little Pony und dem Invisible Pink Unicorn.

Wie fast alle kollektiv-anonym entstandene westliche Bildkultur der letzten anderthalb Jahrzehnte hatte Vaporwave seine Ursprünge auf 4chan, von wo es auf das Musikforum /mu/essentials migrierte. Der erste Vaporwave-Sampler “/mu/ VAPORWAVE ESSENTIALS” aus dem Jahr 2012 erschien mit dem folgenden Manifest:

“Global capitalism is nearly there. At the end of the world there will only be liquid advertisement and gaseous desire. Sublimated from our bodies, our untethered senses will endlessly ride escalators through pristine artificial environments, more and less than human, drugged-up and drugged down, catalysed, consuming and consumed by a relentlessly rich economy of sensory information, valued by the pixel.”

Der Text recycelt 1980er-Jahre-Baudrillard und 1990er-Jahre-Cyberkultur, unterlegt sie mit einem apokalyptischen Grundton vom Ende der Geschichte durch den globalen Kapitalismus, um zwischen den Zeilen anzudeuten, dass nur Retrobewegungen noch Handlungsspielräume eröffnen: Wenn Gegenwart und Zukunft verbaut sind, bleibt nur die Neuerfindung der Vergangenheit. Vaporwave und alle zuvor genannten populären Internet-Bildkulturen (einschließlich der Lisa Frank- und Little Pony-Memes sowie dem auf 4chan enstandenen “Nyan Cat”-Meme einer fliegenden weißen Katze, die einen regenbogenfarbigen Kondensstrahl ausstößt) sind daher nicht nur nostalgische Rekonstruktionen verlorener Kindheiten. Sie artikulieren einen populistischen Wunsch nach Handlungsräumen, der sich auf die Vergangenheit projiziert.

Donald Trump, als Prominenter der amerikanischen 1980er Jahre und des Fernsehzeitalters, verkörpert diese Macht der Handlung gegenüber dem “Ende der Welt” durch den “globalen Kapitalismus”. Ab 2015 entstand neben dem Hauptstrom der Vaporwave die Parallelbewegung des Fashwave, mit neofaschistischen und Trump-unterstützenden Bildern und Elektropopcollagen im Vaporwave-Stil. Das wichtigste Medium der militanten Alt-Right-Bewegung, der Blog The Daily Stormer (benannt nach der Nazi-Zeitung Der Stürmer), ist im Vaporwave-Stil gestaltet und fungiert als neofaschistische Meme-Fabrik. Zu seinen Betreibern gehört der berüchtigte, zum Neonazismus übergetretene Internet-Troll weev (Andrew Auernheimer), den die Medienwissenschaftlerin Gabriella Coleman in ihrem Buch über 4chan und die ältere Anonymous-Bewegung porträtierte.14 In Fashwave-Bildern finden sich, statt Einhörnern und My Little Pony-Figuren, Kriegspferde und Zentauren als Männlichkeitssymbole, die klassische faschistische Ästhetik in pink-metallicer Färbung fortschreiben.

Es gibt einen gemeinsamen Nenner aller bisher besprochenen rosa Einhörner und Anverwandten, von Lisa Frank bis Vaporwave: Nicht nur ist ihre Zielgruppe geschlechtlich festgeschrieben, so dass Grenzüberschreitungen zu Konflikten wie den “Pony Wars” führen. Die Zielgruppe ist auch ethnisch homogen. In den US-amerikanischen Lisa Frank-Werbespots der 1980er und 1990er Jahre sind ausschließlich weiße, in der Regel blonde Mädchen zu sehen. Selbst heute noch zeigt die Fernsehwerbung für My Little Pony - in den USA, Australien und Brasilien - ausschließlich Mädchen, die entweder weiß oder weiß-gemischt sind. Seit Kimba, der weiße Löwe ist whiteness Identifizierungsmerkmal sowohl der Zeichenfiguren, als auch ihrer Zielgruppe. (In Mittelalter und Frühneuzeit wurde das Einhorn zwar häufig, aber nicht ausschließlich als weißes Tier dargestellt, z.B. auf dem Tapestry of the Lady and the Unicorn aus dem späten 15. Jahrhundert, im Tudor Bestiary aus dem 16. Jahrhundert oder auf Domenico Zampieris Fresko des Einhorns und der Jungfrau aus dem frühen 17. Jahrhundert. Aus der heutigen Internet-Bildkultur sind Einhörner mit dunklem Fell hingegen verschwunden. Das im Unicode-Zeichensatz seit der Version 8.0 im Jahr 2015 standardisierte “Unicorn Face”-Emoji ist, in den Ausführungen von Apple, Google, Microsoft, Samsung und WhatsApp, weiß mit pastellfarbenem Haar, bei Apple mit regenbogenfarbigem Horn.)

Auch die Popstars im Einhornkostüm sind ausnahmslos weiblich und weiß. Taylor Swift, die im Jahr 2014 Bilder von sich im schneeweißen Einhorn-Kostüm mit Engels- bzw. Pegasusflügeln via Instagram verbreitete, wurde (ohne ihre Zustimmung) zum Idol amerikanischer Neonazis und Bildmotiv rassistischer Alt-Right-Memes, was die Kulturwissenschaftlerin Adriane Brown bereits im Jahr 2012 auf ihr in Bild und Songtexten kultiviertes Image als “weißes, heterosexuelles, normativ-weibliches Mittelschicht-Mädchen” und “good girl” zurückführt.15 In der amerikanischen Popkultur schaffen die Bildwelten magischer Einhörner, Ponies, Pegasus-Pferde einen weiß-nostalgischen safe space: eine heile Gegenwelt zu politischen Zumutungen wie zum Beispiel den afroamerikanisch-postkolonialen Bilderzählungen der Videos von Beyoncé.

Von seiner ethnisch-geschlechtsspezifisch-nostalgischen Codierung abgesehen, lebt das heutige Meme-Einhorn vom Widerspruch seiner exklusiven, magischen Aura und seiner Massenreproduktion. Dieser Widerspruch von Verborgenheit und Sichtbarkeit war bereits im Invisible Pink Unicorn angelegt sowie in der 2013 entstandenen Silicon Valley-Wortprägung vom Unicorn Startup als eines Gründerbetriebs, der noch nicht an der Börse notiert und trotzdem mehr als eine Milliarde Dollar wert ist. Den Widerspruch von Exklusivität und Massenreproduktion aufzulösen verspricht die Unicorn Coin, eine Kryptowährung mit pastelligen Comic-Einhörnern als Wappentier, die sie als “Lieblingssymbol der Leute” und “Magisches Wesen” der Währung bewirbt, das seine “Exzellente Anschaffung” verkörpert.16

Das Einhorn verspricht Individualisierung, sowohl durch autoerotische An-Steckung wie im Cosplay, als auch in der gegenseitigen Beziehung zwischen Mensch und Fabeltier. Dieses Versprechen ist zwar so abgegriffen wie das vom Märchenprinzen, dessen Platz das Einhorn auf geschlechtsunbestimmte, posthumane, stumme Weise einnimmt. Diesen Widerspruch löst die Meme-Kultur aber in Halbironie und Camp auf. Die Schwäche kritischer Rationalismen wie dem vom Invisible Pink Unicorn ist die Stärke der Meme-Kultur: dass sie Widersprüchlichkeit nicht nur aushält, sondern sich ihr genußvoll hingibt.

Literatur

Boisserée, Clemens. „Kurioses Fleischprodukt: Wie schmeckt die Einhorn-Wurst?" RP ONLINE, https://rp-online.de/nrw/panorama/einhorn-wurst-so-schmeckt-der-bratwurst-hit_aid-17987061. Zugegriffen 25. Juni 2018.

Brown, Adriane. „‘She Isn’t Whoring Herself out like a Lot of Other Girls We See’: Identification and “Authentic” American Girlhood on Taylor Swift Fan Forums". Networking Knowledge: Journal of the MeCCSA Postgraduate Network, Bd. 5, Nr. 1, Februar 2012. ojs.meccsa.org.uk, https://ojs.meccsa.org.uk/index.php/netknow/article/view/252.

Coleman, Gabriella. Hacker, Hoaxer, Whistleblower, Spy: The Many Faces of Anonymous. Reprint edition, Verso, 2015.

Connelly, Sherilyn. Ponyville Confidential: The History and Culture of My Little Pony, 1981-2016. McFarland, 2017.

Davis, Arianna. „What’s Really Behind Unicorn Fever". Refinery29, 8. Mai 2017, https://www.refinery29.com/2017/05/152423/unicorn-trend-explanation-history.

Dawkins, Richard. The God Delusion. Bantam Press, 2006.

Frazer, James George. The Golden Bough. Macmillan, 1950.

Hörisch, Jochen, Herausgeber. Das Tier, das es nicht gibt: Eine Text- und Bild-Collage über das Einhorn. Verlag Wilhelm Fink, 2005.

Jakobson, Roman. Word and Language. Walter de Gruyter, 1971.

LaMarche, Uba. „Pony Up Haters: How 4chan Gave Birth to the Bronies". Observer, 3. August 2011, http://observer.com/2011/08/pony-up-haters-how-4chan-gave-birth-to-the-bronies/.

Morrissey, Tracie Egan. „Inside the Rainbow Gulag: The Technicolor Rise and Fall of Lisa Frank". Jezebel, 12. Dezember 2013, https://jezebel.com/inside-the-rainbow-gulag-the-technicolor-rise-and-fall-1179495705.

My Little Pony - WikiFur, the furry encyclopedia. http://en.wikifur.com/wiki/My_Little_Pony. Zugegriffen 28. Juni 2018.

Unicorn Coin. „Unicorn Coin – Your Crypto Unicorn". Unicorn Coin, 2018, https://unicorncoin.xyz/.

„Urban Dictionary: Unicorn". Urban Dictionary, https://www.urbandictionary.com/define.php?term=Unicorn. Zugegriffen 27. Juni 2018.

Wikipedia. „Invisible Pink Unicorn". Wikipedia, 23. Mai 2018. Wikipedia, https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Invisible_Pink_Unicorn&oldid=842563141.

---. „Twerking". Wikipedia, 21. Mai 2018. Wikipedia, https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Twerking&oldid=177614166.


  1. Der Begriff des “Memes” wurde vom Evolutionsbiologen Richard Dawkins geprägt und beschreibt Information, die sich in Analogie zu Genen reproduziert, dabei mutiert und nach darwinistischem Prinzip überlebt oder abstirbt. In diesem Sinne sind nicht nur Internet-Witzbilder, sondern z.B. auch Markennamen, Werbeslogans und politische Propaganda Memes. Seit den 2000er Jahren wird der Begriff des Memes allerdings fast ausschließlich für anonym produzierte, popkulturelle, witzig beschriftete Bilder im Internet verwendet.

  2. (Boisserée).

  3. (Davis).

  4. Vgl. die Medienwissenschaftlern Hannah Dick in (Davis): “Our social media profiles are shaped around visual culture […] Instagram and Snapchat are now more popular than text-based social media platforms like Twitter and Facebook, so it’s not surprising that rainbows, unicorns, and highly saturated multicolored representations have taken over the visual field”.

  5. Von (Wikipedia, “Twerking”) definiert als “sexuell provokativer Tanzstil”, bei dem “die Tanzenden hauptsächlich kreisende, ruckartige Hüftbewegungen ausführen”.

  6. (“Urban Dictionary”.)

  7. In den Niederlanden, wo ich wohne, in den großen Handelsketten Action und Blokker.

  8. (Frazer, I, Kapitel III).

  9. (Jakobson, 258).

  10. (Connelly, 99).

  11. (Morrissey).

  12. (Dawkins, 53)

  13. Eine anthologisierte Literaturgeschichte des Einhorns findet sich in (Hörisch).

  14. (Coleman).

  15. (Brown).

  16. (Unicorn Coin).