Im Jahr 2002 definierte der Mediengestalter und -theoretiker Lev Manovich “neue Medien” anhand von fünf Kriterien: “numerische Repräsentation” (beziehungsweise Digitalität), “Modularität”, “Automatisierung”, “Variierbarkeit” und “Transkodierung”:1 “Modularität” ist nach Manovich die Assemblage verschiedener Medientypen zu einem Ganzen, dessen Teile weiterhin selbständig bleiben (wie zum Beispiel Bilder und Videos auf einer Webseite), “Variierbarkeit” die Tatsache, dass ein Medienobjekt “nicht in einer für die Ewigkeit festgelegten Form existiert, sondern in verschiedenen, potentiell unendlichen Versionen”,2 “Transkodierung” die sowohl technische, als auch sinngemäße Übersetzung von Daten in verschiedene Medien und Darstellungsformen.
Im amerikanischen Sprachgebrauch, auch in Manovichs Theorie, steht “new media” strikt für Digitalmedien.3 Auf Datenbanken, Websites, Computerspiele und anderer Computersoftware (einschließlich “Apps” auf Mobiltelefonen und Tabletcomputern) treffen alle fünf Kriterien Manovichs zu; im guten wie im schlechten Sinne, zum Beispiel der “Variabilität” als Zwang ständiger Software-Versionsaktualisierungen oder von “Automatisierung” (beziehungsweise Programmierbarkeit) als Einfallstor von Computerviren.
Manovichs Kriterien passen jedoch auch auf prozessuale und nichtabgeschlossene Experimentalkunstwerke des vordigitalen Zeitalters. Die Aktionspartitur Impossible Effort des Fluxus-Künstlers George Brecht aus dem Jahr 1962 zum Beispiel besteht aus einer simplen Karte mit den beiden Anweisungen:
" - Do 1.
Sie ist, in Manovichs Nomenklatur, in einem numerisch repräsentierten System geschrieben (dem aus 128 Zeichen bestehenden amerikanischen Schreibmaschinen-Alphabet), erschien modular sowohl als selbständige Partitur, als auch als Teil einer Assemblage - Brechts Kartonschachtel WATER YAM, die variabel in verschiedenen Auflagen und Nachdrucken veröffentlicht wurde. Die beiden Instruktionen müssen zudem zu Performances oder Medien transkodiert werden, die von den Aufführenden frei bestimmt werden.
Die offenen Kunstwerke der Avantgarden des 20. Jahrhunderts nahmen so die “neuen Medien” des 21. Jahrhunderts vorweg und bestätigen damit die These von Künstlern als “Seismographen” (Jacques Ellul) beziehungsweise “Antennen” (Marshall McLuhan) technologisch-gesellschaftlicher Entwicklungen.5 In dieser Vorwegnahme jedoch wandelte sich die Konnotation von Prozessualität und Nichtabgeschlossenheit. Die ehemals utopischen Versprechen experimenteller Kunst wurden zur dystopischen Poetik von Google, Facebook, Amazon und Microsoft, deren Systeme sich prozessual, nichtabgeschlossen, modular und variabel in den Alltag hinein transkodieren. Die Medientheoretikerin Wendy Hui Kyong Chun charakterisierte “neue Medien” vierzehn Jahre nach Manovich als “auf dem immer letzten Stand der Obsoleszenz”: “Sie sind spannend, wenn sie vorgeführt werden, und schon wieder langweilig, wenn sie eintreffen. […] Sobald eine Analyse interessant und abgeschlossen ist, ist es schon zu spät: Sobald wir etwas begriffen haben, ist es schon wieder verschwunden oder verändert”.6 In diesem Sinne kommerzialisiert und banalisiert sich das offene Kunstwerk in der Softwareindustrie zum Geschäftsmodell des Wegwerfprodukts.
Nicht nur ist die Geschichte der “neuen Medien” eine Kryptogeschichte der Künste. Die neuere Kunstgeschichte jenes radikal Unfertigen, zu der George Brechts Fluxus-Partituren gehören, ist umgekehrt auch eine Mediengeschichte, sowohl der im Englischen “media” genannten künstlerischen Ausdrucksformen wie Malerei, Skulptur, Fotografie, Performance, als auch von “Medien” im Sinne der technischen Formen ihrer Kommunikation und Archivierung (wie zum Beispiel Buch, Schallplatte und Video). Denn beinahe jede neue, experimentelle künstlerische Ausdrucksform erforderte neukonzipierte Medien ihrer Ausführung und Dokumentation.
Die Anfänge dieser Kunst-Mediengeschichte liegen bei der japanischen Künstlergruppe Gutai in den 1950er Jahren, die mit Atelierkunst radikal brach und Körper-Mal-Aktionen im öffentlichen Raum aufführte. Die Gutai-Künstler waren vom amerikanischen action painting Jackson Pollocks beeinflußt, das auch eine der Referenzen von Umberto Ecos Konzept des offenen Kunstwerks ist. Gutai ging allerdings über Pollock hinaus, da flüchtigen Aktionen seine Kunst selbst waren, statt ein herkömmliches, abgeschlossenes Kunstwerk als Produkt hervorzubringen. Der Impuls Gutais setzte sich fort in der Aktions- und Happeningkunst der 1960er Jahre, einschließlich der Fluxus-Bewegung. Fluxus trug das Unfertige und Prozessuale wörtlich in seinem Namen. Er war zudem die erste sowohl westliche, als auch asiatische Kunstbewegung. Neben amerikanischen und europäischen Künstlern gehörte die zweite Generation der japanischen Aktionskunst nach Gutai, darunter die Gruppen Ongaku und Hi Red Center, zu seinen Mitgliedern. Der Gründer und Organisator von Fluxus, George Maciunas, brach in einem Fluxus-Manifest von 1963 mit der europäischen Kultur: “PURGE the world of dead art, imitation, artificial art, abstract art, illusionistic art, mathematical art, — PURGE THE WORLD OF ‘EUROPANISM’!”.7
Maciunas schwebte eine kommunistische Populärkunst vor, die einem breiten Publikum sowohl ästhetisch (als “Fluxamusement”), als auch pekuniär zugänglich sein sollte. Fluxus’ prozessuale Ästhetik folgte, zumindest für Maciunas, einem marxistischen Programm der Entdinglichung und Anti-Warenförmigkeit. (Dieses Projekt ist heute provokativer als je zuvor angesichts des explodierenden Markts für Gegenwartskunst auf Messen wie der Art Basel und der Tatsache, dass immer mehr private Kunstsammlungen als finanzielle Spekulationsobjekte in steuerfreien Flughafen-Depots lagern.) Die Verflüssigung der Fluxus-Kunst führte jedoch zu einem technischen Problem: Die etablierten Kunst- und Publikationsformen, von der Ausstellungskunst bis zum -katalog, waren nicht nur zu (physisch) statisch und (kulturell) bürgerlich, sondern auch zu teuer. Fluxus umarmte daher die preiswerten populären Massenmedien Buch, Schallplatte, Schmalfilm, Video, überprüfte sie hinsichtlich ihrer möglichen Qualitäten als selbst performative, prozessuale und unabgeschlossene Informationsträger und erfand sie in diesem Sinne neu: so zum Beispiel Nam June Paiks Schallplatten-Schaschlik (1963), an dem mehrere Schallplatten übereinander aufgespießt rotieren und von Besuchern beliebig mit portablen Tonarmen abgespielt werden können, Paiks Tonband-Installation Random Access (1963), deren Besucher an die Wand geklebte Tonbandstreifen mit mobilen Magnetköpfen an beliebigen Punkten und in beliebiger Richtung und Geschwindigkeit abspielen konnten, sowie in den experimentellen Spieldosen und Künstlerbüchern von Maciunas’ Fluxus Editions und in der frühen Videokunst von Paik und Wolf Vostell.8
Random Access (“wahlfreier Zugriff”) ist ein computertechnischer Begriff für Speicher, die - wie Festplatten und Speicherchips aber technisch gesehen auch Karteikarten und als Kodex gebundene Bücher - an beliebigen Punkten ausgelesen werden können, im Gegensatz zum Beispiel zu Bandspeichern (sowie Filmspulen und Schriftrollen), die linear ausgelesen werden müssen. Paiks Installation markiert daher den Beginn jener Konvergenz von Experimentalkunst und “neuen Medien” in sogenannter “Medienkunst”; ein Wort, das Paik in Anlehnung an McLuhan in den späteren 1960er Jahren prägte.
Parallel zur außer- und anti-institutionellen Geschichte von Gutai und Fluxus enstand Computermusik, -grafik und -dichtung seit den 1950er Jahren als Produkt universitär-künstlerischer Forschung: Die Illiac Suite des amerikanischen Komponisten Lejaren Hiller 1957 an der University of Illinois at Urbana-Champaign, die an der Universität Stuttgart in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren entstandenen Computerdichtungen von Theo Lutz und Max Bense sowie Computergrafiken von Frieder Nake. Der von Douglas Kahn und Hannah Higgins9 herausgegebene Sammelband Mainframe Experimentalism rekonstruiert die beiden, akademischen und nicht-akademischen Kunstbetriebe und ihre Konvergenz in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren.10 Sie war auch Gegenstand der von Jack Burnham kuratierten Ausstellung Software von 1970, die frühen Konzeptkunstinstallationen von u.a. Hans Haacke, Joseph Kosuth und Les Levine sowie (im Katalog) von Nam June Paik zusammen mit experimentellen Softwareprojekten zeigte, darunter ein frühes Hypertext-System von Ted Nelson (einem direkten Vorläufer des World Wide Web) und einem Computer-Interaktionssystem von Nicholas Negroponte (dem späteren Leiter des Media Labs am Massachusetts Institute of Technology).11
Wie Lutz Dammbecks Dokumentarfilm Das Netz rekonstruiert, wurden ab den späten 1960er Jahren zeitgenössische Künstler systematisch in private und universitär-öffentliche Forschungslabore eingeladen, um dort als Stipendiaten mit Computern zu experimentieren.12 Dies waren vor allem Fluxus-Künstler: Paik arbeitete 1966 in den Bell Labs des Telekommunikationskonzern AT&T, Alison Knowles programmierte ihr computergeneratives Gedicht The House of Dust 1967 auf Computern des Polytechnic Institute of Brooklyn, der dänisch-amerikanische Fluxuskünstler Eric Andersen entwickelte computergenerative Texte am dänischen Institut Regnecentralen in den Jahre 1969 und 1971.13 Außerdem schrieben die Fluxuskünstler und konkreten Poeten Emmett Williams, Dick Higgins und Jackson MacLow zwischen 1965 und 1969 computergenerative Gedichte.14
The House of Dust basierte auf vier Wortlisten, aus den Einzelwörter jeweils zufällig ausgewählt und zu einem Teilsatz aneinandergereiht wurden. Dem immergleichen Präfix “a house of” folgt (1) ein zufällig ausgewähltes Baumaterial, (2) ein Ort oder eine Situation, (3) eine Lichtquelle und (4) eine Beschreibung seiner Einwohner. Diese Kombinatorik resultierte in Gedichten wie:
A house of wood under water using natural light inhabited by friends
oder:
A house of roots in an overpopulated area using electricity inhabited by horses and birds…15
Dank eines Guggenheim-Stipendiums konnte Knowles diese zufallsgenerierten, imaginären Häuser 1968 in ein physisches Haus übersetzen, das sie erst in New York baute und Anfang der 1970er Jahre auf dem Campus der Kunsthochschule CalArts in Kalifornien wiederaufbaute, um darin Studenten zu unterrichten und andere Künstler Projekte aufführen zu lassen.16 In einem Aufsatz über dieses Gedicht charakterisiert Hannah Higgins (Knowles’ Tochter) das House of Dust als beispielhaftes offenes Kunstwerk im Sinne Ecos, dessen Unabgeschlossenheit vor allem in den Übersetzungen vom englischen in Computerprogrammiersprache und in Architektur liege.17 Aus heutiger Sicht wäre hinzuzufügen, dass ein “Haus aus Staub” nicht nur als Utopie lesbar ist, sondern auch als Dystopie instabiler Behausungen in prekarisierten Städten mit erzwungenen nomadischen Leben. Knowles’ Gedicht ist sowohl offenes Kunstwerk, als auch “new media” im Sinne von Manovich: numerisch und automatisiert als Computerprogramm; modular, variativ und transkodiert in seinen verschiedenen Materialisierungen.
Außerhalb von Hochschulen und Forschungslaboren kam computerbezogene und elektronisch vernetzte Gegenwartskunst erst in den 1990er Jahren mit der net.art auf. Preiswerte Personalcomputer und massenverbreitetes Internet waren sowohl Voraussetzungen, als auch Reibungspunkte dieser internationalen, anfangs vor allem west- und osteuropäischen Bewegung.18 Der britische Künstler und Aktivist Heath Bunting, der zum Kern der frühen net.art gehörte, kehrte sich 1998 vom Netz wieder ab, dessen Monopolisierung durch Großkonzerne er schon damals sah. Seinen Ausstieg dokumentierte er in dem (in seinem Genre klassisch gewordenen) Netzkunstwerk Own, Be Owned or Remain Invisible.19 Es besteht aus dem Text eines Zeitschriftenartikels über Bunting und dessen zunehmende Internet-Skepsis, den der Künstler zu einer Webseite so umgestaltete, dass jedes Wort ein anklickbarer Link auf eine ihm wörtlich entsprechende “.com”-Adresse ist. So ist jedes der sechs Wörter des ersten Satzes, “Heath Bunting is on a mission”, anklickbar und verweist jeweils auf “www.heath.com”, “www.bunting.com”, “www.is.com”, “www.on.com”, “www.a.com”, “www.mission.com” (und so weiter für die restlichen 807 Wörter des Texts). Im Jahr seines Entstehens führten die meisten Klicks ins Leere nichtexistenter Adressen. Wenige Jahre später jedoch gab es für beinahe jedes Wort eine korrespondierende Firmenadresse im Internet. Im weiteren Laufe der Zeit spiegelten die Verweise auf Buntings Seite die Konjunkturen der Internetwirtschaft: Nach der Krise der Internet-Wirtschaft in den früheren 2000er Jahren wurden viele Wort-Adressen wieder leer, kurz danach füllten sie sich erneut. Ihre kontinuierlich verändernden Inhalten machten Buntings Seite zu einer (im Sinne von Joseph Beuys) sozialen Skulptur des Internets, seiner Eigentumsverhältnisse und seiner Privatisierung der Wörter. Was Hans-Joachim Schädlichs Kinderbuch vom “Sprachabschneider”, der einem kleinen Jungen die Wörter abkauft, bis dieser stumm wird, als politische Fantastik erzählt,20 vollzieht sich hier technisch-indexikalisch an den Wörtern des Texts, in Echtzeit und ohne absehbares Ende.
Own, Be Owned or Remain Invisible ist sowohl Musterbeispiel eines offenen Kunstwerks, als auch der “neuen Medien” im Sinne Manovichs, dessen fünf Kriterien “numerische Repräsentation” (im digitalen Code der Webseite), “Modularität” (im Verhältnis Text/verlinkte Websites), “Automatisierung” (durch die automatisch aktualisierten Verweise), “Variierbarkeit” (durch die ständig neuen Versionen seiner Kartografie) und “Transkodierung” (des Zeitschriftenartikels) es nicht nur erfüllt, sondern auch zu seiner Poetik macht.
Die net.art der 1990er Jahre existierte weitgehend außerhalb des Kunstbetriebs und teilte damit das Schicksal aller prozessualen, performativen und auf nichtabgeschlossene Werke gerichteten Kunstformen, die in den frühen 1970er Jahren aus Fluxus und verwandten Strömungen hervorgegangen waren: die von Paik mitbegründete Videokunst, der über die Briefpost international vernetzte Mail Art, die Performancekunst, der von Fluxus initiierte alternative Kunstbetrieb von Künstlerbüchern und -Multiples, die Klangkunst. Jede von ihnen besaß jeweils ihre eigenen spezifischen Künstler, Institutionen und Kunstgeschichtsschreibungen.21 Erst von den 1990er bis 2010er Jahren lösen sich diese spezialisierten Kunstsysteme auf und werden - mit formalen Abstrichen - in den zeitgenössischen Ausstellungskunst-Betrieb integriert. Diese Eingemeindung fällt historisch zusammen mit dem Wiederaufkommen konzeptualistischer Kunst seit den 1990er Jahren im Zuge der sogenannten “relational aesthetics”,22 eines zunehmend durch Kuratoren dominierten Systems zeitgenössischer Kunstzentren und Biennalen sowie neueren Kunsttheorien, die “contemporary art” nicht mehr als allgemeinsprachliche Bezeichnung gegenwärtiger Kunst, sondern als spezifischen Epochen- und Genrebegriff einer Kunst in der Nachfolge des Minimalismus und Konzeptualismus definieren.23 Diese Entwicklungen sorgten zwar einerseits für die Reintegration zuvor marginalisierter Kunstformen und -medien wie Video, Performance, Künstlerbücher und, seit Mitte der 2010er Jahre, auch Computer- und Netzprojekte in den Hauptstrom zeitgenössischer Kunst. Andererseits führte sie zur Domestizierung und Abschwächung dieser Kunstformen im “white cube” klassischer Ausstellungsräume, welcher in der Nachfolge Duchamps, aber im Gegensatz zu den prozessualen und anti-institutionellen Kunstformen seit den 1960er Jahren, wieder zum bestimmenden Parameter dessen geworden ist, was als zeitgenössische Kunst zählt.24
In dieser Domestizierung zeigt sich mit Adorno die Dialektik von Kunst als “der von Autonomie und fait social” (Adorno, 340), von Prozess und Verdinglichung. Deshalb, so könnte man argumentieren, nimmt zeitgenössische Ausstellungskunst eine kritisch-differenziertere Haltung ein als ungebrochene Kunstprogramme der Unabgeschlossenheit in den vitalistisch beeinflussten Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts sowie in Fluxus und seinen Nachfolgern. Andererseits ist im Zeitalter der “neuen Medien” - die längst keine bloßen Informationsträger mehr sind, sondern Technologien im umfassendsten Sinne25 - radikale Prozeßhaftigkeit und Unabgeschlossenheit selbst zum “fait social” geworden und sogar zum dominanten Geschäftsmodell, wie nicht nur die Eigentumsverhältnisse der von Heath Bunting verlinkten Wörter dokumentieren, sondern auch die Tatsache, dass Apple, Google, Facebook, Amazon und Microsoft zu den (am Börsenwert gemessen) wertvollsten Unternehmen der Welt aufgestiegen sind. Dies zeigt sich auch an der Wandlung des Begriffs Projekt von ursprünglich einer radikal offenen, experimentellen Form (und Gegenbegriff zum Kunstwerk) in den 1960er bis 1980er Jahren zum Projektmanagement in den 1990er Jahren, zu der auch Projektkunst geworden ist. Künstler, die keine klassische Waren mehr herstellen, sondern Projekte, arbeiten ähnlich den wandernden Projektemachern des 17. Jahrhunderts, die von Fürstenhof zu Fürstenhof zogen, um mit deren Kapital technologische-wirtschaftlich-infrastrukturelle Innovationen zu entwickeln. Die Arbeit von Projektkünstlern, die nicht mehr an Galerien und den Verkauf von Kunstwerken gebunden ist, sondern an eine endlose nomadische Kette von Aufenthalts- und Projektstipendien und -honoraren, begann in den 1960er und 1970er Jahren, wie das Beispiel Alison Knowles’ zeigt. Hier wurde das Prinzip von Startup-Betrieben vorweggenommen,26 mit Unabgeschlossenheit als unabdingbarem Geschäftsmodell von nicht mehr fertigen Produkten, sondern Modulen, Versionierungen und Transkodierungen von Projekten, die fortlaufend entwickelt und präsentiert werden.
Damit antizipierte Projektkunst die “neuen Medien” und ihre Ökonomie. Die Ausstellung Software im Jahr 1970 war deshalb visionär. Ihr Kurator Jack Burnham begriff “Software” nicht einfach im technischen Sinne, sondern als Ausdruck von “Dematerialisierung”.27 Er kam darin mit der Kunstkritikerin Lucy Lippard überein, die 1973 mit ihrem Buch Six Years eine Kunstgeschichte der “Dematerialisierung des Kunstobjekts von 1966 bis 1972” veröffentlichte.28 Die Kunst, die Lippard und Burnham präsentieren, wird ungewollte Avantgarde (oder, mit Ellul, “Seismograph”) der kommerziellen Softwareindustrie, die erst ein halbes Jahrzehnt nach Burnhams Ausstellung, 1975, mit der Gründung Microsofts entstand. Projektkünstler wurden Pioniere dessen, was der italienische Sozialphilosoph Maurizio Lazzarato im Jahr 1996 als “immaterielle Arbeit” in nachindustriellen Ökonomien beschrieb, die als “klassische Formen” unter anderem “audiovisuelle Produktion, Werbung, Mode, Softwareentwicklung, Fotografie, kulturelle Aktivitäten” umfasst.29 Für Lazzarato verbirgt sich “hinter dem Etikett des unabhängigen Freiberuflers” der “intellektuelle Proletarier”: “Die Qualität dieses Typus von Arbeitskraft ist daher nicht nur durch ihre professionelle Kapazitäten definiert (die die Konstruktion kulturell-informationeller Inhalte der Ware ermöglichen), sondern auch durch seine Fähigkeit, eigene Aktivitäten zu ‘managen’ und als Koordinator der immateriellen Arbeit anderer zu agieren”.30 Dass dies der modus operandi von (Projekt-) Kunst und Kreativwirtschaft geworden ist, dokumentiert auch die heutige, selbstverlegte Zeitschrift der ursprünglich “Immaterial Labour Union” getauft Pervasive Labour Union, einer virtuellen Gewerkschaft von Künstlern und Designern, die kritisch über ihr eigenes “Entreprecariat” schreibt.
Lippards, Burnhams und Lazzaratos Terminologie ist insofern problematisch, als sie von einem idealistischen Begriff des geistig-Immateriellen versus des Materiellen ausgeht, der jene Ontologie des Konzeptuellen verkennt, die sich in den (am Zen-Buddhismus seines Lehrers John Cage geschulten) meditativen Aktionspartituren George Brechts radikal ausstellt. Übersetzt man Lippards und Burnhams Begriffe von “Material” und “Dematerialisierung” jedoch in Objektkunst und Projektkunst, so zeigt sich, wie die experimentellen Künsten den Strukturwandel von einer Ökonomie der Herstellung von Dingen zu einer prekären Dienstleistungsökonomie um mehrere Jahrzehnte vorwegnahmen. (Deshalb ist auch der in den 1990er Jahren aufgekommene Begriff der “creative industries” anachronistisch.)
Diese Verhältnisse reflektiert die Essayistin, Filmemacherin und zeitgenössische Künstlerin Hito Steyerl in ihrer Videoarbeit Liquidity Inc. von 2014. Anhand der Biographie eines Börsenhändlers, der sich nach dem Bankencrash von 2008 als beruflicher Kampfsportler neu erfand, reflektiert sie die Verflüssigung von Arbeit, finanzieller und Informationssysteme und webt dabei ein assoziatives Netzwerk von Computer-Benutzeroberflächen, computeranimierten Flüssigkeits-Effekte, Wetterberichten und die Metapher der “Cloud” (dem Marketing-Namen für mietbare Computerdienste, die in die Rechenzentren von Firmen wie Google, Microsoft und Amazon ausgelagert sind).
Anders als Heath Buntings Website steht Liquidity Inc. nicht im Netz und ist im Gegensatz zu den Partiturkarten George Brechts auch nicht im Buch- oder DVD-Handel erhältlich, sondern nur in Kunstausstellungen zu sehen. Die Arbeit verhandelt “Flüssigkeit”, im Sinne von Zygmunt Baumans “liquid modernity”, komplex, übersetzt dies aber nur begrenzt in ihre Ontologie als Kunstwerk und Medium. Diese Bindung an Ausstellungsorte, die vom Kunstbetrieb und seinen ökonomischen Gesetze diktiert wird, ist einerseits typisch für die Weise der Integration prozessualer Kunstformen ins System zeitgenössische Kunst seit den 1990er Jahren. Andererseits steht Steyerls Arbeit in der Tradition der kritischen Theorie und ihrer Dialektik von Autonomie und “fait social” - wobei Steyerl den Horizont und die Sprache dieser Kritik öffnet, indem sie globale, populäre und technologisierte Bildkultur nicht nur reflektiert, sondern auch verwendet.
Die Geschichte des offenen Kunstwerks wurde seit Fluxus zu einer Geschichte neuer - beziehungsweise: künstlerisch neu erfundener - Medien, weil sich die konventionellen Formate der damals verfügbaren Massenmedien (Buch, Schallplatte, Radio, Film, Radio, Fernsehen) für radikal offene, prozessuale und unabgeschlossene Kunstwerke ungenügend eigneten und daher so aufgebrochen werden mussten wie zum Beispiel in Paiks Schallplatten-Schaschlik. Seitdem Computer und Internet zur dominierenden Informationstechnik geworden sind - und selbst die Computerspielindustrie in westlichen Ländern größer geworden ist als die Filmindustrie -, sind “neue Medien” nicht mehr neu. In der heutigen Medientechnologie sind offene Formen dermaßen konventionalisiert und instrumentalisiert, dass ihre ökonomische und politische Zweischneidigkeit sicht- und spürbar geworden ist. Dies tangiert nicht nur Ecos “offenes Kunstwerk”, sondern auch seinen unausgesprochenen Überbau, die “offene Gesellschaft”.
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“[N]umerical representation”, “automation”, “variability”, “transcoding”, (Manovich, 27-48).↩
“A new media object is not something fixed once and for all, but something that can exist in different, potentially infinite versions”, (Manovich, 36).↩
Ich verwende letzteren Begriff hier der besseren Verständlichkeit halber umgangssprachlich. Technisch gesehen sind Medien - Informationsträger - nie digital, sondern kann nur Information digital sein. Darüber hinaus bedeutet “digital” im technisch-wissenschaftlichen Sinne diskret beziehungsweise quantifizierbar eingeteilte Information und steht daher weder zwingend für Nullen und Einsen, noch zwingend für elektronische Informationsverarbeitung. Eine Klaviatur und normierte Alphabete zum Beispiel sind in diesem technischen Sinne digitale Systeme.↩
(Brecht).↩
(Ellul, 404), (McLuhan, 16).↩
“[N]ew media exist at the bleeding edge of obsolescence. They are exciting when they are demonstrated, boring by the time they arrive. […] If an analysis is interesting and definitive, it is too late: by the time we understand something, it has already disappeared or changed” (Chun). - Diese und andere alltäglichen Dystopien des Digitalzeitalters habe ich anderorts, in Anlehnung an den Technikanthropologen Justin Pickard, als crapularity beschrieben.↩
(Maciunas). Wie (Kellein) rekonstruiert, erfolgte dieser Bruch nach einer enttäuschenden Zusammenarbeit mit Fluxus-Künstlern in Europa, wo Maciunas zeitlich lebte und arbeitete.↩
(Ammer et al.), (Hendricks).↩
Tochter des Fluxus-Künstlers Dick Higgins und Autorin des Buchs The Fluxus Experience, (Higgins).↩
((Higgins und Kahn).↩
(Higgins und Kahn, 51-63).↩
(Dammbeck).↩
(Higgins und Kahn, 195-208).↩
Ebenda.↩
(Higgins und Kahn, 195).↩
(Higgins und Kahn, 197).↩
(Higgins und Kahn, 198).↩
(Bosma).↩
(Bunting).↩
(Schädlich).↩
Für die Videokunst: das System der Videokunstfestivals, aus dem unter anderem die Berliner transmediale hervorging (Gruber und Vedder), für die Performancekunst, spezialisierte Kunstzentren wie The Kitchen in New York und De Appel in Amsterdam und die Zeitschrift High Performance, für Künstlerbücher, spezialisierte Künstlerbuchhandlungen wie Printed Matter in New York und Boekie Woekie in Amsterdam sowie den vom Fluxuskünstler Tomas Schmit mitbegründeten Wiens Laden in Berlin (Drucker), für die Klangkunst Festivals wie die Berliner Inventionen (Kahn).↩
(Bourriaud).↩
(Osborne).↩
S.a. (Osborne, 27).↩
Was (McLuhan) mit seinem Begriff der Medien als “extensions of man” bereits erfasste, aber weder von ihm, noch seinen Nachfolgern zu Ende gedacht wurde.↩
Siehe (Kellein) über die zahlreichen Projektunternehmungen von George Maciunas wie u.a. die Fluxus Editions und die Fluxhouse Cooperative.↩
(Higgins und Kahn, 51).↩
(Lippard).↩
“[A]udiovisual production, advertising, fashion, the production of software, photography, cultural activities, and so forth”, (Lazzarato, 136).↩
“Behind the label of the independent”self-employed" worker, what we actually find is an intellectual proletarian“;”The quality of this kind of labor power is thus defined not only by its professional capacities (which make possible the construction of the cultural-informational content of the commodity), but also by its ability to “manage” its own activity and act as the coordinator of the immaterial labor of others" (Lazzarato, 136f.).↩