Notes on the Nature of Conspiracy

Florian Cramer

12/2007

"For there either was some Tristero beyond the appearance of the legacy America, or there was just America and if there was just America then it seemed the only way she could continue, and manage to be at all relevant to it, was as an alien, unfurrowed, assumed full circle into some paranoia." Thomas Pynchon, The Crying of Lot 49
,,Denn entweder gab es da ein Tristero jenseits des sichtbaren, herkömmlichen Amerika, oder es gab nur Amerika, und wenn es nur Amerika gab, dann schien ihre einzige Möglichkeit weiterzumachen und darin überhaupt von Belang zu sein, eine fremdartige, ungeschlachte und bloß vermutete ewige Wiederkehr zu einer Art Paranoia." Thomas Pynchon, The Crying of Lot 49

Politische Theologie

Sie ist zwar ein altes Phänomen, aber ein moderner Begriff: Erst 1945 prägte Karl Popper das Wort Verschörungstheorie in seinem Buch "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde". Seit der Veröffentlichung der rosenkreuzerischen "Fama Fraternitatis" im frühen 17. Jahrhundert beziehen sich Verschwörungstheorien vor allem auf Geheimgesellschaften wie Rosenkreuzer, Freimaurer und Illuminaten, seit dem 19. Jahrhundert auch zu ganzen Bevölkerungsteilen wie Juden, heutzutage Muslimen und, reziprok im Islamismus, Christen. Religion ist Konspiration im Wortsinn, als Versammlung und Fabrikation von Geistern. Konspirationstheorien zielen daher auf die Grauzonen zwischen Religion und Politik, Glauben und Macht.
Grundannahme aller Verschwörungstheorien ist die Existenz einer esoterische Politik jenseits exoterischer Politik; daß es also eine verborgene Politik unterhalb und sogar im Gegensatz zu öffentlich wahrnehmbarer Politik gäbe, oder - wie in antisemitischen Verschwörungstheorien - esoterische Politik in exoterischer und esoterischer Religion. Verschwörungstheorien sind daher Musterbeispiele politischer Theologie im Sinne von Popper Gegenspieler Carl Schmitt, genau besehen sogar hypothetisch rekonstruierte politische Theologie, welche die Konzepte des politischen Exoterischen und Esoterischen nicht bloß beschreibt, sondern auch praktisch anwendet; ein Modell, dem auch der amerikanische Neokonservativismus folgt, wenn er Leo Strauss' Theorie esoterischer Wahrheit in politischer Philosophie in praktische Politik umsetzt.
Wenn Religion Konspiration ist, dann ist Theologie die sie begleitende transzendentale Verschwörungstheorie. Moderne Verschwörungstheorien hinggegen haben sich von kulturellen Erklärungen der Natur zu kulturellen Erklärungen der Kultur säkularisiert: menschengemachte Erklärungen des Funktionierens der Menschheit, im Gegensatz zu menschengemachten (aber als göttlich verklärte) Erklärungen göttlichen Wirkens. Modernen Verschwörungstheorien sind somit ein Oxymoron säkularer Glaubenssysteme.

Semiotik

Diese Theologien sind, in ihrem Stammgeschäft, Zeichendeutungen: In westlichen Religionen, die Interpretation der Natur als symbolisch verfaßt, vom Gotteswort abgeleiteten Zeichen. Moderne Verschwörungstheorien schreiben diversen Zeichen - bevorzugt massenmedial verbreiteten Wörtern, Bildern, Tonaufnahmen - eine kohärente und allumfassende Bedeutung zu, und zwar immer im Gegensatz zu einem common sense, der zwischen ihnen keinen Zusammenhang sieht. Als ausufernde Gewebe untereinander verknüpfter Zeichen, in denen alles mit allem korrespondiert und jedes Detail eine höhere Bedeutung hat, sind Verschwörungstheorien Hypersemiosen und, gemäß Umberto Eco, Überinterpretationen. In seinem Roman ,,Das Foucaultsche Pendel" schreibt Eco, neben der Krimiprosa, genau solch eine Semiotik der Verschwörungstheorien als kombinierte Zeichendeutung und politische Theologie.
Umgekehrt gibt es starke paranoide Elemente in christlicher und jüdischer Theologie, die alles Gegenständliche auf die Schöpfung durch Gottes Wort zurückführt. Die semiotischen Spiele, die popkulturelle Verschwörungstheorien wie Robert Anton Wilsons Romantrilogie ,,Illuminatus" veranstalten, schlagen in handfeste politische Theologie um, wenn sie - wie zum Beispiel von dem deutschen Computerhacker Karl Koch in den 1980er Jahren - für bare Münze und eine Leo Strauss'sche esoterische Offenbarung wahrer Machtmechanismen gehalten werden; nach wie vor ist der Glaube an eine Weltherrschaft der Illuminaten oder Freimaurer in Hackerkulturen weit verbreitet.

Paranoia

"Siehst Du den lichten Streif da über das Gras hin, wo die Schwämme so nachwachsen? Da rollt abends der Kopf. Es hob ihn einmal einer auf, er meint', es wär ein Igel: drei Tag und drei Nächt, er lag auf den Hobelspänen. - Leise: Andres, das waren die Freimaurer! Ich hab's, die Freimaurer!" (Georg Büchner, Woyzeck, 1837)
In jedem und allem Sinn zu erkennen ist insofern eine narzißtische Handlung, als es alle Zeichen auf einen Ursprung, und eine Verschwörung zurückführt. Verschwörungstheorien sind daher entweder strukturell monotheistisch oder zumindest auf systematischen Theologien begründet. Aus psychoanalytischer Sicht sind sie paranoide Semiotik, wobei die Paranoia eine perfekte, wenn nicht gar übersteigert rationale Form der Irrationalität ist: Irrationalität, die sich auf streng rationalen Methoden gründet, auf scheinbar zwingend logische, kohärente und überzeugende Schlußfolgerungen aus Tatsachen und Beobachtungen. Es ist eine Rationalität, die darüber irrational wird, daß sie Irrationalität und Kontingenz nicht auszuhalten vermag. Indem sie scheinbar unverwandte Beobachtungen zu einem Ganzen fügt, sie dabei aber stark filtert und nur zuläßt, was die vorgefaßte Theorie bestätigt, verfährt sie rhetorisch.

Das Erhabene

Jenseits ärztlicher Diagnosen ist Paranoia offen eingestandener modus operandi ganzer Industrien. ,,Only the Paranoid Survive" lautet der Titel der Autobiographie von Andrew Grove, Mitbegründer und langjähriger Chef des Chipmultis Intel. IBM wird die Erfindung und Microsoft die Perfektionierung der ,,FUD"-Marketingstrategie zugeschrieben, ,,fear, uncertainty and doubt" (,,Furcht, Unsicherheit und Zweifel") über die Konkurrenz zu verbreiten, Emotionen, die die paranoid-semiotische Überrationalisierung der Verschwörungsszenarien spiegelbildlich komplementieren. In ihnen zeigt sich die ästhetische Dimension von Verschwörungstheorien, im Wortsinne der aisthesis als Wahrnehmung, Gefühl und subjektivem Urteil.
Seit der lateinischen Rhetorik von Pseudo-Longin und der ästhetischen Philosophie Edmund Burkes aus dem 18. Jahrhundert ist das Erhabene kanonisiert als ästhetisches Register von Furcht, Unsicherheit und Zweifel. Longin, Burke und nach ihnen Immanuel Kant sowie romantische Künstler wie Caspar David Friedrich und William Turner verorten das Erhabene in übermannender Naturgewalt: Stürmen, Gewittern, Berghöhen und Schluchten, dunklen Wäldern. Im 19. Jahrhundert deuten gothic novels - wie Mary Shelleys ,,Frankenstein" - die erhabenen Schrecken der Natur in menschengemachten Horror der Kultur um, eine Literaturtradition, die bis zum ,,Namen der Rose" und ,,Da Vinci-Code" mit ihren Cocktails aus schwarzer Romantik, Kriminalstory und politischen Verschwörungen höchst lebendig ist. Wahrscheinlich ist es nicht zufällig, daß die ersten Groß-Verschwörungstheorien wie die antisemitischen ,,Protokolle der Weisen von Zion" fast zeitgleich mit der gothic novel entstehen und sich ebenfalls auf das Erhabene gründen, es aber als Trope einer ästhetischen Politik umdeuten: unbegrenzt ausufernd, bedrohlich, überwältigend.
In seinem Buch ,,Das postmoderne Wissen" (,,La condition postmoderne") von 1979 postuliert Jean-François Lyotard ein ,,postmodernes Erhabenes", das sich auf subjektiver und kollektiver Kontingenzerfahrung begründet. Die Verschwörungstheorieromane Thomas Pynchons, Robert Anton Wilsons, Umberto Ecos und Dan Browns verkörpern in ihrer Summe nicht nur ,,postmoderne" Durchlässigkeit zwischen Hoch- und Populärkultur, sondern - vor allem in Robert Anton Wilsons hackerkultureller Rezeption - auch das Spiel mit dem Feuer der Paranoia, zwischen Reflexion und Selbstaufgabe.

Untergrundpolitik

Von der lateinischen Rhetorik bis zur Schauerromantik und dem abstrakten Expressionismus wurde das Erhabene als anti-schön, antiklassisch und daher Anti-Mainstream begriffen. Auch im 21. Jahrhundert hält sich Gothic als Subkultur. Mit ihrem paranoiden Erhabenen sind auch Verschwörungstheorien ein gegenkulturelles Phänomen, Unterground immer dort, wo sie offizieller Geschichtsschreibung widersprechen und Gegenwirklichkeit schaffen. Indem sie common sense-Wahrheitsannahmen stören und zeigen, wie Dinge radikal anders interpretiert werden können, leisten sie im besten Fall praktische erkenntnistheoretische Kritik. Deshalb haben Subkulturen Verschwörungstheorien taktisch eingesetzt, sowohl analytisch in Deutungen von Phänomenen, als auch in synthetischen Fabrikationen wie dem kollektiven Medienphantom Luther Blissett. Einerseits übersetzt Luther Blissett die Verschwörungsplots von Pynchon, Wilson, Eco und (im geringeren Maße) Brown in gesellschaftliche Praxis. Andererseits kehrt die Eskalation solcher Fiktionen in Glaubenssysteme kritisch um, denn das Luther Blissett-Projekt begann 1994 in Italien als selbsterklärte ,,Verschwörung" und endete 1999 mit der Veröffentlichung des historischen Romans ,,Q", die das Projekt als Fiktion sterben ließ und damit allen seinen Weiterungen in paranoide politische Theologie den Boden entzog.

Offizielle Politik

Die Affinität von Verschwörungstheorien und Postmoderne erschöpft sich nicht im Erhabenen. Eine einzige Verschwörungstheorie behauptet eine alternative Wahrheit, doch in ihrer Summe besagen Verschwörungstheorien, daß es nicht eine, sondern eine unendliche Zahl von Wahrheiten gibt, deren Gültigkeit von Machtverhältnissen abhängen sowie, vor allem bei Gegen-Wahrheiten, Überzeugungskraft. Wie Nietzsche 1873 in seinem Fragment ,,Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn" schreibt, ist Wahrheit rhetorisches Konstrukt:
Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.
Obgleich Nietzsche behauptet, von einem ,,außermoralischen" Standpunkt über Wahrheit zu reden, enthält sein Text dennoch eine Moral: Daß Wahrheit, als rhetorischer Fabrikation, nicht zu trauen ist. Zwar hat diese Aussage, in einem umgekehrten Kreter-Paradox und ähnlich dem neoistischen Slogan ,,belief is the enemy", den blinden Fleck, selbst die Wahrheit über Wahrheit sagen zu wollen. Sie beschreibt aber auch, wann Verschwörungstheorien problematisch werden, dann nämlich, wenn ihnen getraut und geglaubt wird.
Thomas Pynchons Roman ,,Die Versteigerung von Nr. 49" (1966) erzählt von einem konspirativen Underground-Kommunikationssystem, von dem bis zum Schluß nicht klar ist, ob es tatsächlich oder nur in der Vorstellung seiner Protagonistin existiert. Durch seine bloße Existenz und Mythohistorie bezeugt dieses System eine andere Wirklichkeit und Gegenkultur, die auch den Neonazi Mike Fallopian und die rassistische Peter Pinguid Society einschließt. An diesem Punkt ist das Verschwörungsszenario nicht mehr romantisch, sondern beschreibt Grauzonen zwischen Under- und Overground-Politik, in denen der Untergrund ganz im Gegensatz zu den späteren ,,Rhizome"-Romantisierungen von Deleuze, Guattari und in elektronischen Künsten kein Wert für sich selbst hat.

Netzwerke

Indem sie alles mit allem verknüpfen, konstruieren Verschwörungstheorien Netzwerke. Das Netzwerk als solches ist eine strukturell paranoide Denkfigur, oder lädt zumindest zu Verschwörungstheorien ein.1 Als Netzwerk der Netzwerk ist das Internet perfekte Projektionsfläche für Verschwörungstheorien, einschließlich jener, daß es vom U.S.-amerikanischen Militär konzipiert worden sei, um einem Atomschlag standzuhalten.

Medientheorie

Diese urbane Legende hat sich vor allem durch Medientheorie verbreitet. Die Medienwissenschaft tendiert traditionell zur Paranoia schon in ihrer Ausweitung des Begriffs ,,Medium" auf fast alles, einschließlich Sendern und Empfängern, Glühbirnen und Revolvern, Engeln und Hostien. Wenn alles ein Medium ist, liegt auch der Schluß nicht fern, daß wir von Medien umzingelt und durchdrungen sind. Und seit McLuhans Behauptung, daß das Medium die Botschaft sei, glauben Medientheoretiker daran, daß das Medium Schöpfer, nicht Übermittler, einer Botschaft ist, ein Werkzeug mit eigener Agenda.
Medientheorie tendiert deshalb dazu, Technologie nicht als etwas kulturell konstruiertes, sondern als autonomen Agenten zu beschreiben, der die menschliche Kultur - ähnlich der Science Fiction von Blade Runner, Robocop und Terminator - in einem unfriendly takeover übernommen hat und programmiert. Kritische Kulturtheorie endet so als Glaubenssystem, das die Technik an die Stelle verflossener Götter und Dämonen setzt; was je fragwürdiger ist, desto weniger es noch als häretische Provokation altmodischer, gutmenschelnder Geisteswissenschaft taugt, sondern zur institutionellen Doktrin gerinnt.
- Zweifellos kann man diese Kritik als selbst paranoid kritisieren. begreift man jedoch das gesamte Konzept "Medien" als eine große Verschwörung, werden Verschwörungstheorien dadurch vielleicht kritisch produktiv.

Fußnoten

1So etwa im Hollywood-Spielfilm ,,The Net" mit Sandra Bullock von 1995 und in Lutz Dammbecks Dokumentarfilm ,,Das Netz" von 2004.