Der folgende Text enstand als Begleitmaterial zu Peter Fenglers Soloausstellung BAROQUE NON BAROQUE, put the needle in the sausage in der Galerie JUBG, Köln sowie als neugesampelte Abschrift eines Live-Gesprächs zwischen Peter Fengler, Florian Cramer und Maziar Afrassiabi.
Statt mich bloß auf auktoriale Eingebungen zu verlassen, um Fenglers Arbeit zu verstehen, interessieren mich auch Interventionen, die Erfahrungsmuster neu zusammensetzen und dadurch die Möglichkeiten der Kunstwerke erweitern. Als Versuch, bestehende Positionen durch neue Begegnungsinfrastrukturen zu rekonfigurieren, um sich der Gewalt der Repräsentation über die Wirklichkeit zu widersetzen.
Der folgende Text ist eine neu inszenierte Version eines tags zuvor im Rotterdammer Kulturzentrum WORM geführten Gesprächs. Da mein Mobiltelefon bei der Aufnahme des ersten Gesprächs versagte, musste alles wiederholt werden. Wie sich herausstellte, könnte das dabei entstandene Tonmaterial beinahe ein Werk von Peter Fengler sein, bei dem die Aufnahmebedingungen, das Wiedergabegerät und der Klang, den sie erzeugen, gleichermaßen zur Erfahrung beitragen. Ein Ergebnis, das die Industrie oft als nutzlos betrachtet, weil es sich simplem Konsum widersetzt. In Fenglers Werk beanspruchen alle Komponenten denselben Raum oder dürfen aktiver Teil des Erlebens sein. Was meine Pläne durcheinanderbringt. Tom, kannst Du mich da rausholen? Um der guten alten Zeiten willen.
Maziar Afrassiabi, Juni 2024, Rotterdam
[Deutsche Übersetzung: Florian Cramer]
O: Wo waren wir?
官無名: Ich glaube, wir hatten unser Gespräch gestern mit ... begonnen. P.H.A.F., hilf mir mal, was der genauen Begriff war.
O: Proportionismus?
官無名: Proportionismus. Genau.
P.H.A.F.: Ah ja, mit dem Penis-Foto.
官無名: Ja, genau.
P.H.A.F.: Der Schwanz, der aus der Hose hing. Ja, genau. Die Haare aus dem Buch. Die Füllung. JAA, Sega. JAA, das war's.
P.H.A.F.: JAA, JAA. Wenn Dir der Arzt das Okay gibt. In diesem Fall gut investieren und den Text der Sekretärin ansehen.
O: JAA.
P.H.A.F.: Für dieses Stück sortier aus hart aus dem Buch. Nimmt das etwas aus der Ressource aus? Transkripte er und sagten, sie brauchen gloopt, aber im Prinzip produzieren sie in den Wolken. Ist da war Durchgang.
O: Hmm. Hmm.
P.H.A.F.: Intervenierend interagiert. Und das ist weder funktional aus Venezuela.
O: Kannst Du mal bitte Englisch reden?
P.H.A.F.: Oh JA. Von dort aus hat mich diese Idee der Reproduktion interessiert. Aber nicht so sehr die perfekte Reproduktion. Ich fand die nichtperfekte Kopie des Originals interessanter.
官無名: Nur um das nochmal zusammenzufassen: Unser gestriges Gespräch über den Proportionismus begann mit der Anekdote, dass Dein Schwanz aus der Hose hing und zu einer Art grafischer Partitur für den Proportionismus wurde, stimmt’s?
P.H.A.F.: JA, stimmt.
官無名: Und dann entwickelte diese Partitur ihre eigene Dynamik. Sie wurde zu einer Performance, und später wurden aus der Performance Objekte. Und genau das wird in der JUBG-Galerie zu sehen sein. Wir haben darüber gesprochen, dass eigentlich alle Objekte, die Du herstellst, performativ sind. Sie sind praktisch Geister. Sie tragen die kinetische Energie früherer Performances in sich. Gestern haben wir auch über Proportionismus gesprochen, und zwar im Zusammenhang mit einem der Galeristen von JUBG, Albert Oehlen, und dem Plattencover, das er 1981 für die erste 7"-Single der Band Palais Schaumburg entworfen hat, und darüber, dass das Motto des deutschen Post-Punk-Plattenlabels ZickZack, auf dem sie erschien, „Lieber zuviel als zuwenig” lautete. Proportionismus scheint jedoch weder das eine noch das andere nahezulegen. Es ist weder die Do-it-yourself-Strategie des Post-Punk, der zufolge Qualität egal ist und man daher lieber mehr als weniger produzieren und veröffentlichen sollte. Noch ist es die minimalistisch-konzeptualistische Strategie, dass weniger mehr ist. Stattdessen scheint Proportionismus dem Stimmen eines Instruments zu gleichen.
P.H.A.F.: JA, richtig.
O: Vibrato und Vibrator. Bei der Vibration geht es um mehr oder weniger, um Abstimmung als Prozess und nicht als Ziel. Man könnte also sagen, dass die Arbeit von P.H.A.F. keine Reaktion auf irgendetwas ist, sondern eine Diskontinuität der Ängste vor mehr oder weniger, als Proportionismus. Das erinnert mich an ein Interview mit dem britischen Philosophen Ray Brassier, der philosophische Originalität darin sieht, wie man denkt, und nicht darin, was man denkt. Die Stimmung, der Vibe. Ich denke, das gilt auch für Kunst in all ihren Formen. Eine Frage der Mentalität, was ein anderes Wort dafür ist, in einem Vibe zu sein. Eine Frage der ständigen Neukonfiguration von Mitteln, die Schaffung neuer Mittel ohne Ende, die wie eine Vibration oder ein Vibrator die Wirkung haben, einfach Teile zu entkoppeln, loszulassen, Auflösung zu bewirken. Orgasmus, statt revolutionärer Forderungen, die sich oft als konservativ entpuppen und keinen systemischen Unterschied machen. Laut Brassier sind Behauptungen, die sich radikal geben oder als radikal oder bahnbrechend präsentieren, bei näherer Betrachtung gar nicht radikal. Sie beruhen auf Voraussetzungen, die fragwürdig und nicht sonderlich radikal sind. Für ihn geht es also nicht darum, nach Radikalismus oder Originalität zu suchen, denn diese sind Teil des Problems. Allein die Tatsache, dass man sich übermäßig von etwas bewusst ist, verhindert den Orgasmus. Für Brassier ist Häresie, ein Begriff, der von Laruelle stammt, radikaler als Revolution, da Revolution sich immer auf das stützt, was sie zu stürzen versucht, und daher einen Teil dessen beibehält, mit dem sie brechen will. Viele Kunstwerke von heute versuchen, ihre Dringlichkeit und Originalität darin zu finden, dass sie sich auf das stützen, was sie zu stürzen versuchen, und zwar hauptsächlich, um markttauglich zu bleiben. Wenn der Gegenstand, der gestürzt werden soll, nicht klar ist, d. h. nicht marktfähig, dann wird es schwierig, die daraus resultierende Kunst zu verkaufen. Die Originalität der Häresie liegt in der Tatsache, dass sie die Regeln der Anerkennung und Legitimität neu konfiguriert und eine Anerkennung aus dem Nichts erfordert.
官無名: Das erinnert mich an eine Schallplatte aus den 1980er-Jahren mit dem Titel „Revolutions Per Minute – The Art Record” [mit Stücken von u. a. Eleanor Antin, Terry Fox, Les Levine, Douglas Davis, Chris Burden, Buckminster Fuller und Joseph Beuys]. „Revolutions“ kann sich dabei auch auf die Umdrehungen eines Plattenspielers beziehen, also 45 oder 33 Umdrehungen pro Minute. In unserem gestrigen Gespräch hatte ich P.H.A.F.s Teilnahme am Wohnprotest Woonopstand 1 in Rotterdam erwähnt. Bei der Demonstration lief er mit einer Art selbstgebautem Legohaus mit, das nicht wirklich als aktivistisches oder Agitprop-Objekt identifizierbar war. P.H.A.F., Du hast dann erzählt, wie Du in Deiner Hausbesetzer-Vergangenheit eine ähnliche Poetik eingesetzt hast, um die Polizei in die Irre zu führen. Als Du mit Freunden ein Haus besetzt hattest und die Polizei kam, um Euch zu räumen, habt Ihr vorgegeben, Diplomaten zu sein und gerade einen Empfang zu haben. Was dazu führte, dass die Polizei mit der Situation überfordert war. Vielleicht steckt also etwas Revolutionäres in P.H.A.F.s Arbeit, aber eher in der Form von Umdrehungen, von Schallplatten oder von Diplomaten in einem besetzten Haus.
O: Nun, vielleicht war mein Grundgedanke, dass man, wenn man eine Arbeit schaffen möchte, die lose auf einer Tradition aufbaut, sagen wir Fluxus oder was auch immer, entscheiden kann, worauf sie basiert. Wie setzt man dann diese Tradition fort, wenn man mit ihr als Status quo brechen möchte? Das war, was P.H.A.F. sagen wollte: Er möchte einen neuen Status quo schaffen.
Wie kann man also einen neuen Status quo schaffen, ohne sich auf das zu stützen, was man eigentlich abschaffen will? Verstehst Du, P.H.A.F.?
P.H.A.F.: JA. Ich versuche eher, Eurer Diskussion zuzuhören, weil das für mich interessanter ist, als selbst über meine Arbeit zu reden. Aber abgesehen davon, JA, die Veränderung des Status quo muss man aus einer mikrokosmischen Perspektive betrachten, finde ich. Das heißt, es geht nicht darum, den Status quo des großen Systems zu ändern, denn in gewisser Weise stimme ich Dir zu, dass das Konservatismus ist, weil es sich dann nur in ein anderes großes System verwandelt. Meistens, wenn zu viel Idealismus im Spiel ist. In diesem Sinne habe ich gestern auch zum Schluss gesagt, dass wir es nicht größer machen dürfen, als es ist. Es handelt sich nur um eine bescheidene, kleine Feigheit, die sich einem Publikum präsentiert, nicht?
P.H.A.F.: Aber in diesem Sinne tut es das natürlich, als Gegner eines weiteren Umfelds, in dem es immer nur ums Größte, Beste, Höchste oder Schnellste geht. Der schnellste Gitarrist, und so weiter. Vielleicht hat es auch etwas damit zu tun, sich mit so einer Herangehensweise an alle möglichen Dinge nicht wohlzufühlen. Aber das beantwortet nicht wirklich Deine Fragen.
O: Ja. Nein, tut es. Das tut es. Jetzt muss ich nachdenken, wie wir weitermachen sollen.
Das Beispiel, wie Ihr in dem besetzten Haus der Polizei gegenübergestanden und Euch als Diplomaten ausgegeben habt, war eine echte Intervention, die die Regeln dieser Situation gewissermaßen verändert hat.
P.H.A.F.: JA.
O: Aber kann das bei Deinen Performances auch in Situationen funktionieren, in denen so etwas erwartbar ist?
P.H.A.F.: Du kannst die Regeln ständig ändern, indem Du eine bestimmte Richtung in der Performance vorgibst. Als ich zum Beispiel eine Lesung zur Ausstellungseröffnung von Dennis Tyfus in einem Kulturzentrum in Hasselt geben sollte, begann ich meinen Vortrag, in dem ich ein paar Dinge aus meinem Lebenslauf erwähnte, was immer ein bisschen peinlich ist, weißt Du, sich selbst so zu produzieren, was am Ende so eine Wirkung hatte wie: „alles klar, JA, hier sind wir wieder, macht der Typ wieder ein paar lustige Dinge, und wir alle fühlen uns wohl dabei”. Aber dann fing ich an, über den Tod unseres Nachbarn in dieser Zeit zu sprechen, nachdem er auf der Intensivstation im Koma lag, und so weiter, und dass er eingeäschert wurde. Und ich fing auch an, alle Beerdigungsdienste aufzulisten, die uns für seine Einäscherung angeboten wurden.
Er hatte nicht viel Geld, also mussten wir eine preisgünstige Kremation wählen.
Das ist immer noch lustig, stimmt’s? Und dann liest man das alles vor, all die Vorschriften und was man für 1500 Euro kriegt und was nicht. Basierend auf maximal vier Personen, aber wenn man Kaffee für zehn Personen möchte, dann muss man plötzlich draufzahlen, und so weiter und so fort.
Also, sie [das Publikum] fühlten sich noch wohl, aber dann habe ich eine kleine Todeskarte für ihn gemacht. Ich weiß nicht, wie man das nennt. Ein bisschen verschroben im katholischen Sinne. Also, da war ein Foto von ihm und das Geburts- und das Todesdatum und dazu ein kleiner Text, und ich habe sie ins Publikum gegeben und herumgehen lassen. Plötzlich änderte sich die ganze Beziehungsebene, denn in diesem Moment wurden sie Teil dieser unbehaglichen Beziehung mit dem Tod. Mit jemandem, den sie nicht kannten. Vorher war es noch eine Art abstrakte Angelegenheit, Du weißt schon, denn es hätte ja imaginär sein können. Aber durch diese Geste fühlte es sich plötzlich nicht mehr abstrakt an, oder nur als Teil eines humoristisch-kabarettistischen Kontexts. Man kann also Regeln und Standpunkte ändern.
官無名: Es wurde existenziell. Das sehe ich auch in all Deinen Arbeiten. Es gibt da immer eine existenzielle Dimension. Und wir haben gestern darüber gesprochen, als wir diese Anekdote von Zhuang Zhou [alternative Schreibweise: Chuang Tzu], dem taoistischen Philosophen, erwähnten, der lieber eine lebendige Schildkröte sein wollte, die ihren Schwanz durch den Schlamm zieht, als eine tote Schildkröte, die als schönes Objekt an einer Wand hängt. Und obwohl Du , P.H.A.F., diese Anekdote nicht kanntest, hast Du ihr völlig zugestimmt. Dir hat auch gefallen, dass Zhuang Zhou sie gewissermaßen als Kampfkunst eingesetzt hat. In der Anekdote kommen zwei Hofbeamte zu ihm, die ihn für den Kaiser rekrutieren wollen, und er lässt sie die Frage beantworten, was der Schildkröte lieber wäre, um sich aus der Situation herauszumanövrieren. Er wendet einen Judogriff gegen die Beamten an, indem er sie selbst den Schluss ziehen lässt, dass sie ihn nicht rekrutieren sollen. Das ist also der existenzielle Teil. Der Teil, in dem man sich in den Dreck begibt, aber nicht als expressionistische Performance, sondern als etwas, bei dem Existenz, Ausdruck und Dreck auch in etwas Konzeptuelles einfließen. Und vielleicht ist das Teil des Proportionismus, stimmt’s?
P.H.A.F: JA, stimmt. Es ist beinahe eine Technik. Ein Werkzeug, wenn man so will.
O: Zhuangzi erweitert dieses Argument, indem er sagt, dass es riskant sei, sich nützlich zu machen. Im Zhuangzi gibt es mehrere Geschichten über nutzlose Bäume, die so krumm und verdreht sind, dass sie unbrauchbar sind. Die aufrechten, schönen Bäume werden gefällt und zu Gegenständen verarbeitet. Die krummen, knorrigen Bäume werden in Ruhe gelassen.
Wenn Du in dieser Welt gedeihen willst, musst Du hässlich sein, ein bisschen aus der Form geraten und nutzlos. Wie es im Zhuangzi heißt: „Jeder kennt die Nützlichkeit der Nützlichkeit, aber niemand kennt die Nützlichkeit der Nutzlosigkeit.“ (Zhuangzi: Dragging Our Tails In The Mud. www.gohighbrow.com)
P.H.A.F: Und es ist interessant, dass Du die Kampfkunst erwähnst, denn auch dort wechselst Du Deinen Standpunkt, wenn Du angegriffen wirst. Du gehst mit dem Angreifer und fütterst den Angreifer mit seiner eigenen Energie, was auch in Zhuangzis Anekdote von der Schildkröte geschieht. Ein Beispiel fürs Ablenken der Frage. Die Hofbeamten mussten plötzlich die schlechte Nachricht [dem Kaiser] überbringen, ohne selbst zu wissen, dass sie die Verursacher dieser schlechten Nachricht waren, indem sie Zhuangzi zustimmten.
P.H.A.F: Das finde ich interessant. Es hat mit Fluidität zu tun. Es hat nichts mit einer Revolution im Sinne von Idealen zu tun. Sondern mit einer kontinuierlichen Praxis, bei der man versucht, sich selbst und den anderen in eine neue Stellung zu bringen, auch ohne große Worte. Es geht nicht um große Worte. Taoismus auch nicht in diesem Sinne von Schmutz. Man kann das auch an einer bestimmten Herangehensweise an Materialien erkennen oder daran, dass ich, wie gestern, über Bilder spreche, auf die ich Papierskizzen lege und das dann einfach als final akzeptiere, oder zumindest als eine Art Endergebnis.
Was natürlich nicht wirklich akzeptiert wird, weil es ja als Skizze gedacht war. Aber dann hinterfragst Du auch diese Idee der Perfektion, des Zenits oder ob es interessant ist, das ganze einfach für fertig zu erklären. Sozusagen. JA, einfach als fertig erklären.
官無名: Übrigens habe ich Dich eben phonetisch missverstanden, aber es war ein interessantes Missverständnis. Als Du sagtest „als final akzeptieren“ – in Bezug auf die Skizze, die das Kunstwerk ist – hatte ich fälschlicherweise „als Vinyl akzeptieren“ gehört. Wie eine Vinylplatte, weißt Du, was meiner Meinung nach ebenso stimmt, findest Du nicht?
O: Eine sehr dadaistische Assoziation. Aber irgendwie habe ich 官無名's Kommentar als indirekte Mahnung an P.H.A.F. verstanden, nicht vom Vinyl abzuweichen. Eine Skizze als endgültig oder sogar als Kunstwerk zu akzeptieren, ist in der Kunst alles andere als eine abweichende Haltung, ob nun schmutzig oder nicht. Wir müssen aufpassen, dass wir die Gerichtsbeamten nicht mit Zhuangzi verwechseln; das Problem, dass man seine eigene Abweichung oder welche Qualifikation auch immer in die Welt hinausposaunt. Und sich so weit hineinzusteigern, dass man anfängt, daran zu glauben.
Letztes Jahr bist Du in Rib2 aufgetreten. Wir haben übrigens eine Videoaufzeichnung davon. Sie ist auf unserem Vimeo-Kanal, falls jemand sie sich ansehen möchte. Die Kameraführung zu Beginn der Aufnahme ist sehr aufschlussreich. Sie wirkt etwas verloren und suchend.
Ich erinnere mich, dass damals eine Menge Spannung in der Luft lag. Ich fühlte mehr Spannung als bei den anderen Performances, die ich zuvor gesehen hatte. Aber natürlich war ich jetzt auch der Gastgeber, und Du hast mir vor der Performance von Deinen schlechten Privatumständen erzählt. Was das Publikum nicht wusste.
Es war wie ein Balanceakt. Du schienst ständig mit dem Handtuch zu drohen. Aber es blieb unaufgelöst, mit dem Effekt, dass die Spannung anhielt. Ich spürte auch viel Widerwillen im Publikum. Sowohl gegenüber dem Ort als auch gegenüber Dir selbst. Fast wie Schulkinder, die ihre Unfähigkeit und Abneigung gegen die Schule durch Mobbing des Lehrers ausdrücken, und dabei alle Brücken hinter sich verbrennen.
Ich würde gerne wissen, wie viel davon geplant war und wie Du im Allgemeinen mit ungeplanten Kräften der Wirklichkeit während einer gescripteten Performance umgehst.
H.A.F.: Das ganze entstand aus einem Gespräch mit einer Frau in Zürich. Ich traf sie vor dem Hotel, in dem wir übernachteten. Ich kam nach draußen, sie stand da, wir sahen uns an und dann sagte sie: „Schönes Wetter heute.“ Und dann dachte ich: „Ah, in dieser Frau stecken viele mögliche Geschichten, sonst würde sie nicht sagen, schönes Wetter.“ Also sagte ich: „Ja, natürlich. Es ist wirklich schönes Wetter". Und ich habe sofort angefangen, mitzuschreiben. Und dann gab es eine Art völliges Geplauder für etwa eine halbe Stunde. Und so hing ich herum und dachte mir, worüber zum Teufel reden die? Du weißt, es geht um nichts. Aber ich war sehr an diesem Nichts als mögliche philosophische Nahrung interessiert. Von da an habe ich angefangen, mehr und mehr über das Geplauder und die Nichtsgespräche zu schreiben, die ich im Laufe der Zeit hatte.
Das ist auch eine Form der Wirklichkeit, in gewisser Weise eine Hyperrealität, dieses Geplauder. Ich kam wohl auch von dort aus auf die Idee, den Tod von Rui in die Performance einzubringen, weil ich damals nicht in der besten Verfassung war, überhaupt etwas zu produzieren. Dann dachte ich, dass es vielleicht auch ein Kampfsport-Ding ist. Wenn sich Dir etwas entgegenstellt, bringst Du es in den Ring, umarmst es und benutzt es auch als Werkzeug oder Material.
Das neutralisiert möglicherweise die Situation für mich, und zugleich bringt es viel Existenzielles, wie 官無名 sagte. Aber auch diesen Unsinn. Dieses Geplauder mit dieser Frau für eine halbe Stunde ... Hast Du unserem Gespräch zugehört, 官無名, oder warst Du gerade weg?
O: Es wurde fast wie... Wie nennt man das nochmal? Etwas, das für etwas anderes steht? Wie heißt der Begriff dafür?
P.H.A.F: Es repräsentiert?
官無名: Eine Metapher?
O: Eine Metapher? Nicht wirklich.
官無名: Eine Parabel?
O: Vielleicht eine Analogie.
官無名: Jetzt kitzelst Du den Literaturwissenschaftler in mir heraus, denn in unserem Fachgebiet haben wir all diese Tropen...
O: JA, aber sagen wir mal, das Geplauder wurde zu einer Art Bewältigungsmechanismus für die existenzielle Situation.
官無名: Ja.
官無名: Ich wollte noch fragen, ob Proportionismus nicht auch ein Proportionismus zwischen Komposition und Improvisation ist. Wie der alte Konflikt in der experimentellen Musik, ob man Komponist oder Improvisator ist, und in den meisten Fällen nur das eine oder das andere sein kann.
O: Das geht ein wenig auf unser vorheriges Gespräch über Glenn Gold zurück. Gould betrachtete sich selbst als Komponisten, wenn er klassische Stücke anderer Komponisten aufführte. Er hasste Dramatik. Anstatt sich opportunistisch an eine Partitur zu halten, die auf einem romantischen Konsens über die Absichten eines Komponisten basierte, ging er gegen den Kontrast zwischen den Teilen einer Partitur an. Er las lieber die Zukunft in ihr, die tagesaktuellen analytischen Standpunkte. Er verlangsamte die Partitur. Er hob den Unterschied zwischen Lesen und Aufführung auf. Er las eine Komposition mit den Ohren eines anderen. Und er suchte nach Ähnlichkeiten und Kontinuierlichkeiten zwischen den einzelnen Teilen.
官無名: JA, man könnte Glenn Gould einen Improvisator nennen, weil er beim Klavierspielen mitsummte. Auch eine Form des existenziellen Proportionismus, bei dem er seinen Körper und dessen Eigenheiten einsetzte, statt ihn abzuschneiden oder von ihm zu abstrahieren, wie es klassische Musiker sonst tun.
O: Aber es gibt auch einen schmalen Grat zwischen einem Tyrannen und einem ernsthaften Performer. Aber das ist natürlich nebensächlich, weil wir wissen, dass P.H.A.F. ein Genie ist.
Wenn Du weißt, wann Du aus Deiner Rolle oder Deinem Skript fallen kannst, dann wird es nicht mehr riskant, wodurch die Methode, Risiken in der Dynamik von Realität und Fiktion einzugehen, vorhersagbar wird. Viele niederländische Komiker arbeiten wohl so.
P.H.A.F: Ist das eine Frage an mich?
O: An Euch beide?
P.H.A.F: 官無名, wie gehst Du als Performer damit um?
官無名: Ich bin nur ein Performer, wenn Du mich für Deine Experimente auf die Bühne stellst.
Vielleicht war genau das auch der Genius von De Player, denn wenn man an einer De-Player-Nacht teilnahm, machte De Player alle zu Performern. Und Du, P.H.A.F., hast als Maître de Conférence die Latte hoch gelegt. Ich erinnere mich, dass Dennis Tyfus einmal sagte, er habe Angst, im Player aufzutreten, weil Deine Moderationen des Abends und Deine Vorstellung der Künstler die Messlatte für alle anderen so hoch legten. Bei den meisten De-Player-Nächten warst Du als Conférencier der beste Performer. In unserem gestrigen Gespräch fiel der Begriff „Orgie”. Es gab etwas Orgiastisches in De Player, und eine Orgie macht auch jeden zum Performer.
P.H.A.F: In diesem Sinne ändern sich auch ständig alle Positionen.
Eine Veranstaltung in diesem Sinne als Zeremonienmeister zu eröffnen, war immer auch eine Art Einladung oder ein Versuch, einen bestimmten Ton zu setzen, ins Ganze einzuschreiten. Es war nicht als eine Art Machogehabe gemeint, obwohl es vielleicht so rüberkommen konnte. Das war immer eine Art Fragezeichen, denn sonst wäre es, wie wir gestern diskutiert hatten, zum Fetisch verkommen.
官無名: Aber, was Du noch nicht weißt, ist, dass ich einmal ein Gespräch mit Goodiepal darüber hatte, über Deine Performance als Zeremonienmeister in De Player. Und meine Theorie war, und jetzt musst Du mir zustimmen oder widersprechen, dass es aus den Katendrechter Rotlichtviertel-Ursprüngen von De Player kam, also im Grunde dadurch, dass De Player einen ehemaligen Glücksspiel- und Sexclub übernommen hatte, einschließlich des Namens „De Player”. Mit Dir, P.H.A.F, als Zuhälter von Katendrecht, aber in einer Camp-Version.
O: Was 官無名 sagt, erinnert mich an den Mockumentary-Film Zelig von Woody Allen aus dem Jahr 1983. Wo auch immer er hinging, löste er sich auf und passte sich der jeweiligen Umgebung an, übernahm den neuen Akzent und sogar die Hautfarbe der Menschen in seiner Umgebung. Kein stabiles Bewusstsein seiner selbst, keine Identität. Daher wurde er „das menschliche Chamäleon“ genannt. Was Du damit sagen willst, 官無名, ist, dass P.H.A.F. im Grunde die Rolle erfüllt hat, die ihm in diesem wirklichen Kontext zugedacht war. Er hat eine Lücke gefüllt. Der Zeremonienmeister ist auch eine Art Puppenspieler. Mehr als in seinen anderen Filmen tritt Woody Allen hier als er selbst auf. Da er keine Identität hat, kann er sich frei zwischen all diesen Welten bewegen und Fiktion als Mimikry einführen: eine Dokumentation performen.
官無名: In den frühen Tagen von De Player, als ich gerade in Rotterdam angekommen war, noch als eine Art Tourist aus Berlin, war De Player für mich ein Cabaret Voltaire des 21. Jahrhunderts. Heute ist das Cabaret Voltaire durch die Kunstgeschichte saubergespült worden, aber zu seiner Zeit war es alles andere als eine reinliche Angelegenheit. Zum Beispiel war Emmy Hennings eine Fixerin und Sexarbeiterin, und Hugo Ball ihr Zuhälter – übrigens nicht in irgendeinem übertragenen Sinne, sondern wörtlich, wie in Schweizer Polizeiberichten aus der damaligen Zeit dokumentiert ist [veröffentlicht in: Kata Krasznahorkai und Sylvia Sassse (Hrsg.), Artists and Agents: Performance Art and Secret Services, Spector Books, 2023, S. 394-411]. Das Cabaret Voltaire richtete sich nicht an ein Kunstpublikum, sondern hauptsächlich an eine ziemlich rüpelhafte Studentenschaft, die besoffen war und sich amüsieren wollte. So konnten all diese migrantischen Aussteiger-Künstler, die nicht in die Gesellschaft passten, zumindest in dem Jahr, in dem es das Cabaret Voltaire gab, überleben, denn es gab genug dieser Wohlstandskinder, die ihnen Trinkgeld für ihre Auftritte hinterherschmissen. Ein sehr ähnliches studentisches Burschenschaften-Publikum hatten Kurt Schwitters und Theo van Doesburg auf ihrer Holland-Dada-Tournee 1923.
Lange Zeit stand das Cabaret Voltaire in keinem Kunstgeschichtsbuch. Es dauerte fast ein halbes Jahrhundert, bis es als Teil der Kunstmoderne kanonisiert wurde. Damals in De Player hatte ich das Gefühl, etwas Magisches mitzuerleben.
O: Ich erinnere mich, dass einer der ersten Acts Boy from Brazil war, der eine seiner Performances damit beendete, dass er sich mühelos auf eine Riesengurke setzte, die er zufällig auf der Theke gefunden hatte. Sobald Du die Logik des Ortes verstanden hattest, dachtest Du, dass dort alles möglich war. Aber gegen Ende hatte ich das Gefühl, dass die Kunstwelt anfing, mit De Player zu flirten, dass sie aus seiner so genannten Andersartigkeit Kapital schlagen wollte, und als Folge davon begann sich der Schmutz oder die Subversivität von De Player zu normalisieren. Das war sein Todesurteil.
官無名: Wir hatten gestern schon darüber gesprochen, aber vielleicht war die letzte schmutzige Performance in De Player, als Alexander Brener sich vor fast genau zehn Jahren, im Juni 2014, seine eigene Scheiße ins Gesicht schmierte. In unserem gestrigen Gespräch, P.H.A.F., hattest Du gesagt, dass dies Deinem eigenen proportionalistischen, existenziell-konzeptionellen Ansatz sehr nahe kam.
P.H.A.F.: JA, definitiv. Ich fühlte mich auf gewisse Weise mit ihm verbunden.
Und ich habe ein paar schöne Tage mit ihm verbracht, als wir am Ufer von Katendrecht saßen und über die Stadt als faschistisches Konzentrationslager nachdachten. Ich glaube, er hat sogar ein Buch darüber geschrieben. Stadtentwicklung als Fortsetzung der Konzentrationslager der Nazis. Das war eine interessante Sichtweise. Auch hinsichtlich der Veränderungen in der gesamten Gegend dort ist das Konzentrationslager in diesem Sinne natürlich auch eine Metapher für alle möglichen Dinge. Ich habe gerade den Kommentar von Mona Keijser, Politikerin der niederländischen rechten Bauernpartei BBB, im niederländischen Fernsehen gesehen, dass Asylbewerber, also islamische Flüchtlinge, denn wenn sie von Flüchtlingen spricht, meint sie immer Araber oder Muslime, nichts über den Holocaust wissen, und es daher ein wichtiger Punkt im neuen Koalitionsvertrag sei, „sie” über den Holocaust zu belehren. Hast Du dieses Video mit dem [niederländischen jüdischen Schriftsteller] Arnon Grunberg und ihr gesehen?
O: Ja, das habe ich gesehen. Es ist schockierend, dass sie fast unsere Premierministerin geworden wäre, aber sie wird weiterhin eine wichtige Rolle als Ministerin der Bauernpartei BBB spielen. Es ist auch nicht so schockierend, solche vorurteilsbehafteten Ansichten werden immer normaler. Sie hat auch angedeutet, dass Muslime von Natur aus, durch ihre Kultur, was für mich eher natürlich klingt, antisemitisch seien.
官無名: Das erinnert mich an die Einbürgerungstests, die meine Partnerin und ich gerade machen. Wir haben bereits die Hälfte hinter uns, darunter auch den Test zur „Kenntnis der niederländischen Gesellschaft”.
Wir haben dabei herausgefunden, dass im Testzentrum niemand dieselben Fragen bekommt. Auch Deine individuellen Fragen sind nicht zufällig gewählt, sondern Du wurdest profiliert und bekommst Fragen, die die niederländische Einwanderungsbehörde für Dich passend findet. Meine Partnerin ist Taiwanesin und bekam Fragen wie: Was machst Du, wenn Leute sagen, dass asiatisches Essen ungesund ist?
O: Was waren Deine Fragen?
官無名: Als Deutscher bekam ich mehr als zehn Fragen zu Hakenkreuzen, Konzentrationslagern und der deutschen Besatzung der Niederlande. Und wenn Du Moslem bist, dann kriegst Du viele Fragen zu Homosexuellen und ob Du Leute auf der Straße verbrennen willst und dergleichen mehr. Ich hatte einen Kollegen, der ist Inder und schwul. Und dann bekam er diese Frage: Du bist an einer Bushaltestelle und siehst zwei Männer, die sich küssen. Was machst Du? Die Multiple-Choice-Antworten lauteten: (a) Du tust nichts, (b) Du sagst ihnen, dass sie aufhören sollen, und (c) Du rufst die Polizei. Er erzählte mir, dass er im Prüfungszentrum einen hysterischen Lachanfall kriegte, weil er die vierte Option vermisste: Ich will mitmachen und auch küssen, in einem flotten Dreier. Also ging er zu den Leuten im Prüfungszentrum und sagte ihnen, dass er diese vierte Antwortmöglichkeit haben möchte.
Peter: JAA!