% Poetik der Erschöpfung: Automatenliteratur, von ihren Sackgassen aus betrachtet % Florian Cramer, Willem de Kooning Academy Rotterdam, 9-2020 Mein Text, den Sie schon vorab erhalten haben, ist ein nichtpubliziertes und noch etwas rohes Manuskript eines Vortrags, den ich ursprünglich auf einer Konferenz gehalten habe, an der auch Hannes Bajohr teilnahm. Ich möchte meine These daher hier nur noch zuspitzen und kommentieren. Zur Illustration ein Deutschpunk-Song aus dem Jahr 1980, "Knülle im Politbüro" der Düsseldorfer Band Kriminalitätsförderungsclub (KFC): [Qualität ist Quantität, zum Saufen ist es nie zu spät] Entschuldigen Sie mir bitte diesen Kalauer, aber die Songzeile "Qualität ist Quantität" bringt aus meiner Sicht das Grundproblem maschineller bzw. computerbasierter Texterzeugung auf den Punkt: Nämlich dass eine Maschine, die ausschließlich mathematische und damit ausschließlich syntaktische Operationen beherrscht - und zwar syntaktisch in einem noch viel engeren Sinne als im linguistischen, nämlich im Sinne des mathematisch beschreibbaren Umformens von Buchstabenketten -, dass solch eine Buchstabenwechselmaschine semantische Operationen also höhere Syntax beherrscht, und damit die Hypothese einer allgemeinen linguistischen künstlichen Intelligenz logisch impliziert, dass Semantik letztlich Syntax ist, oder - wissenschaftstheoretisch ausgedrückt - dass quantitative Verfahren auch alle qualitativen Verfahren einschließen; oder, wenn man die Ambition senkt und nicht auf eine allgemeine künstliche Intelligenz, sondern eine beschränktere und spezialisiertere künstliche Intelligenz abzielt, dass sich zumindest in ihrem Tätigkeitsgebiet - wie zum Beispiel der Poetik - qualitative Verfahren zufriedenstellend durch quantitative Verfahren abbilden lassen. "Zufriedenstellend" ist natürlich ein schwammiges und subjektives Kriterium, aber es bringt uns zur ästhetischen Wahrnehmung und zum ästhetischen Urteil über maschinengenerierte Texte oder andere Zeichen- und Kunstformen. Dass es in den Künsten "machine agency" (Maschinen-Mitwirkung) gibt, und zwar auch auf der Ebene von Poetik und Ästhetik, und lange vor der Erfindung des Computers, muss dabei seit Nietzsche's Aphorismus über die Schreibmaschine, Kittler und Latour nicht mehr diskutiert werden. Es steht für mich auch außer Frage, dass diese Mitwirkung durch die Maschine bei jeglichen Formen des Schreibens durch künstliche Intelligenz noch deutlich zunehmen wird, wahrscheinlich sogar bis zu einem Punkt, an dem Schreiber von Gebrauchs- und Alltagstexten für jeden Satz nur noch wenige Schlüsselwörter eintippen und das Textverarbeitungsprogramm diese elaboriert komplettiert - und dass auf diese Weise auch Romane und Gedichte geschrieben werden. Literatur würde damit nur nachholen, was in anderen künstlerischen Disziplinen wie z.B. Grafikdesign mit Photoshop und Filmanimation schon lange üblich ist. Aber auch in diesem Szenario steckt die Poetik, die ich in meinem englischen Vortragstext zu skizzieren versuchte, nämlich eine Poetik der algorithmisch recycleten Gemeinplätze, wenn man so will, also ein Leierkasten oder ein Kaleidoskop aus stereotypen Versatzstücken. Genau hierin liegt auch die politische - und epistemologische - Problematik von Algorithmen und Deep Learning-basierter künstlicher Intelligenz, die in ihrem Datenmaterial konservierte Stereotypen recycelt, und z.B. in der Form von Übersetzungssoftware "doctor and nurse" als "Arzt und Krankenschwester" übersetzt. Die philosophische Frage ist also, ob eine KI-basierte, automatisierte Literatur nicht auf eine monumentale Version von Flauberts "Dictionnaire des idées reçues" hinausläuft. Der Titel meines Vortragsmanuskripts spielt übrigens auf einen Essay des amerikanischen Schriftstellers John Barth von 1967 an, "The Literature of Exhaustion". Dieser Essay war äußerst wirkungsreich in der amerikanischen Literatur, weil er als Manifest des literarischen Postmodernismus verstanden wurde. Ich halte dies jedoch für eine Fehllektüre, die darauf beruht, dass die literarischen und künstlerischen Beispiele, auf die Barth sich bezieht, damaligen Schriftstellern und Kritikern weitgehend unbekannt waren. In ihrem Kern ist die "Literature of Exhaustion" nämlich eine Kritik von experimentellen, in obskuren Kleinauflagen publizierten Künstlerbüchern aus der Fluxus-Bewegung und der konkreten Poesie; Bücher, die die seriellen und formalisierten Schreibweisen heutiger Computerpoesie vorwegnahmen, und deren Autoren (wie Alison Knowles und Eric Andersen) zum Teil sogar schon damals mit Computerpoesie programmierten [s. Higgins & Kahn] und auf deren Poetik sich viele heutige Autoren heutiger digitaler und konzeptueller Poesie (wie u.a. Jim Rosenberg und Kenneth Goldsmith) explizit beziehen. Der Vorwurf Barths an diese Künstler und Dichter lautet, dass sich ihre seriellen Verfahren ästhetisch schnell erschöpfen; das auch ist mit "Literature of Exhaustion" gemeint. Als Gegenbeispiel führt Barth Jorge Luis Borges an, der zum Beispiel mit seiner "Biblioteca de Babel" diese Permutationen elegant abkürzt, indem er sie bloß beschreibt; aus heutiger Sicht könnte man sagen, indem er den Quellcode ihres Algorithmus als Prosa aufschreibt statt dessen Output lyrisch auszudeklinieren (und damit auch, beinahe lehrbuchmäßig, Jakobsons poetische Funktion der Sprache auszusparen). Das ist natürlich auch die Poetik, und die Selbstverteidigung, John Barths als Verfasser grotesk-realistischer Romane, dessen Studenten und Kollegen an der State University of New York at Buffalo (einem Zentrum der experimentellen Künste in Amerika, und späterem Gründungsort des Electronic Poetry Centers) ihn mit den Fluxus-Büchern konfrontierten. Den "Kaleidoskop-Formzwang" oder der "contrainte" wie ich eigentlich, im Rückgriff auf Oulipo sagen müsste, meine ich aber nicht als Pejorativ, sondern vor allem als Korrektur der verbreiteten Annahme von Computerisierung und Programmierung als _Erweiterung_ bestehender Ausdrucksformen, Poetiken und Ästhetiken. Maschinenpoetiken stattdessen als _Beschränkungen_ aufzufassen, war das Verdienst von Oulipo, insbesondere von Georges Perec und seinem Hörspiel _Die Maschine_ (über das Johanna Charlotte-Horst später näher eingehen wird). Diese Reflexion, und diese Poetik, gilt es meiner Meinung nach wieder ins Gedächtnis zu rufen, wenn man sich zum Beispiel auf künstliche Intelligenz-Poetiken und digital humanities einlässt.