% Rosa Einhörner % Florian Cramer > "Outside the gates of heaven > Oh, there lives a unicorn > I close my eyes to seven > Oh, this world is not my home." > (Modern Talking, _In 100 Years_ [1987]) # Momentaufnahme Wer im Jahr 2018 die Wörter "unicorn" oder "Einhorn" mit Googles _Image Search_ sucht, sieht, wie grundlegend sich das Bild des Fabeltiers verändert hat. Fast immer ist es weiß oder pastellfarben, hat regenbogenfarbige Haare, ist im Manga-Stil mit kindlichen oder niedlichen Attributen gezeichnet oder computergerendert. Die heutige Ikonografie des Einhorns umfasst nicht nur Bilder und Memes im Internet, sondern auch viele Kaufprodukte: Einhorn-Schreibwaren, Einhorn-Spielzeuge, Einhorn-Kleidung und -Bettwäsche, Einhorn-Kindermöbel, Einhorn-Gummiboote. Man kann Einhörner sogar essen, seitdem der Fleischwarenhersteller Puttkammer im Jahr 2017 eine knallrosa gefärbte _Einhorn-Bratwurst_ auf den Markt brachte, mit regenbogenfarbigem Schriftzug und einem gezeichneten, rosa-weißen, vor einem Regenbogen stehenden Einhorn auf ihrer Verpackung. Laut einem Firmensprecher hatte man sich durch die Tatsache inspirieren lassen, dass es in Supermärkten "alles nur noch mit Einhörnern" gab, einschließlich "Schokolade, Saft, Kekse";^[xxx] darunter auch die Einhorn-Schokolade von Ritter Sport, eine rosa-weiße Tafel, auf deren rosa Verpackung ein gezeichnetes rosa-weißes Einhorn vor einem Regenbogen steht und der Werbeslogan der Marke, "Quadratisch. Praktisch. Gut." abgewandelt ist zu "Quadratisch. **Magisch**. Gut". Damit hält die Schokoladenverpackung die kulturelle Konstante fest im Wandel des Einhorns vom mythischen Tier in Antike und Mittelalter zum pastell- und regenbogenfarbigen Internet-Meme: seine Bedeutung als magisches Wesen, die sich überschneidet mit dem populären subkulturellen, halbironischen Konzept der "Meme Magic" - von Internet-Meme-Bildern als magischen Symbolen. Wenn Einhorn und virale Internet-Bildkultur Wahlverwandte sind, die einander gefunden haben, liegt ihre Synthese auf der Hand. Jedoch beschränkt sich das rosa Einhorn weder auf bloße Zirkulation von Bildmotiven, noch lässt es sich auf ein Internet-Phänomen reduzieren. In den USA begann der Einhorn-Lebensmitteltrend im Jahr 2016, als die Food-Bloggerin Adeline Waugh mit Farbpigmenten auf Frischkäse-Toastbroten knallbunte, abstrakte Formen malte, im sozialen Netzwerk Instagram teilte, wo ihre Kreationen als "unicorn toasts" die Runde machte.^[xxx] Das heutige, historisch junge Phänomen des regenbogenfarbigen Einhorns hatte sich also verselbständigt: Das Attribut war (in metonymischer Verschiebung) nicht mehr Beigabe, sondern Identifikationsmerkmal geworden und hatte, zumindest bei den Toasts, das namengebende Horn des Einhorns überflügelt. Ein Jahr später folgte der Großkonzern Starbucks mit einem "Unicorn Frappucino", einem rosa-weißem Cremegetränk im rosa Becher mit darauf gezeichneten Konturen eines Pferdekopfs, den ein Strohhalm zum Einhorn aufbohrt. An diesen Beispielen zeigt sich einerseits, wie heutige Produkttrends als Memes und visuelle Populärkultur in sozialen Medien entstehen.^[Vgl. das Zitat der Medienwissenschaftlern Hannah Dick in xxx: "Our social media profiles are shaped around visual culture [...] Instagram and Snapchat are now more popular than text-based social media platforms like Twitter and Facebook, so it's not surprising that rainbows, unicorns, and highly saturated multicolored representations have taken over the visual field".] Andererseits sind diese Memes selbst Pastiches - Kopien, Variationen und Mutationen - älterer populärer Bilder und Produkte, die außerhalb des Internets entstanden. Im Jahr 2013 trat der Popstar Miley Cyrus tritt im Einhorn-Pyjama auf - sowohl in Videos als auch in öffentlichen Räumen. Cyrus' Kostümierung fiel zusammen mit ihrem Durchbruch als erwachsener Popsängerin. In Antithese zu ihrer Vergangenheit als Kinderstar des Disney Channels war Cyrus' neues Image hochgradig sexualisiert, schloss kontroverse kulturelle Aneignungen des afroamerikanischen _twerking_ ein und gipfelte 2015 in einer vom umstrittenen Fotografen Terry Richardson geschossenen semipornografischen Fotoserie. 2014 und 2015 traten die Popstars Ariana Grande und Katy Perry im selben Einhorn-Pyjama auf, den Cyrus getragen hatten. Alle drei Sängerinnen treten feministisch und _sex positive_ auf, Cyrus als selbstbeschriebene "gender-neutrale, sexuell fluide" Person, Perry als feministische LGBT-Unterstützerin, Grande als Kritikerin von konservativen Geschlechterrollen in der Musikindustrie. Mit ihren Einhorn-Kostümen praktizieren Cyrus, Perry und Grande "Cosplay", die in der japanischen Populärkultur erfundene Verkleidung als Comic-, Film- oder Videospielfigur im öffentlichen Raum. Cyrus', Perrys und Grandes's Cosplay verbindet, genretypisch, Magie und Verkindlichung/Verniedlichung - die in der Summe Märchenhaftigkeit ergeben, und zwar auch im verharmlosende Sinne der Disney Corporation, für die alle drei Sängerinnen gearbeitet haben. Darüber hinaus macht es zwei weitere Attribute des heutigen, pastell-regenbogenfarbigen Einhorns sichtbar: Erstens sexualisieren es das Einhorn, wobei sich diese Sexualisierung durch Verniedlichung tarnt. Zweitens wird sichtbar, dass die heutige Einhorn-Bildkultur geschlechtsspezifisch oder, englisch präziser ausdrückbar, _gendered_ ist. Obwohl Pastell- und Regenbogenfarben homosexuell-queer konnotiert sind (und das im Einhorn-Cosplay oft um die Stirn geschnallte Horn eine faktische Reproduktion von Stirn-Umschnalldildos ist, wie sie vor allem in der Schwulenszene verbreitet sind), verharmlost die heutige Einhorn-Bildkultur diese Elemente zu weiblich-mädchenhaften Codes, deren Geschlechtszuschreibung so konservativ ist wie rosa Babykleidung. Damit schließt die heutige Einhorn-Popkultur fast bruchlos an spätantike Mythologie an, derzufolge Einhörner nur von Jungfrauen eingefangen werden können. Als sowohl magisch und kindlich, cisgender-weiblich _und_ gender-queer, phallisch und fluide verkörpert das Einhorn polymorph-perverse Sexualität. Diese polymorphe Perversion ist nicht bloß kindliches, sondern auch weibliches Privileg. Die Einhorn-Anzugträgerin kann spielerisch fließen zwischen Sexualität und Asexualität, Kind- und Erwachsensein, Mensch-, Tier- und Dingsein, Oralfixierung, phallischer, vulvarer, hermaphroditischer und allen sonstigen denk- und vorstellbarer Genitalität, zwischen cis und trans, auto- und multisexuell. Vergleicht man das spätantike Bild des von der Jungfrau eingefangenen Einhorns mit den Popsängerinnen im Einhornkostüm, so dominiert im älteren Bild die Paarbeziehung und im neueren die Autoerotik. Das _Urban Dictionary_ definiert hierzu passend die heutige Slang-Bedeutung von "Unicorn" als "that girl that you can't catch. Everything about her is so perfect (divine, if you will) getting with her is unfathomable. [...] But never give up; unicorns are said to be 'uncatchable,' but nothing is impossible".^[(„Urban Dictionary“)] Hier drehen sich die Geschlechterrollen um: Nicht mehr ist das Einhorn ein phallisch konnotiertes Tier, das durch eine Jungfrau einfangen wird, sondern eine im konservativen Sinne jungfräulich konnotierte Frau, die beinahe unerreichbar ist für den heterosexuellen Mann. Diese Bedeutung bleibt auch bei Cyrus, Perry und Grande implizit erhalten: Autoerotisches, verniedlichtes _cocooning_ im Einhorn-Pyjama, das sowohl polymorph-sexuell, als auch betont unschuldig ist. Darin, dass es diese Gegensätze vereinigt, liegt die magische Kraft des Einhorns. Oft vermengt sich das Einhorn dabei mit verwandten Tieren, fantastischen wie realen: dem Pegasus, dem weißen Pferd und dem Pony. 2015 verbreitet der Popstar Taylor Swift ein Foto von sich in einem Pegasus-Gummiboot via Instagram, wobei dieser Pegasus mit schneeweißem Körper sowie goldener Mähne und Schweif den heutigen Einhörner visuell verwandt gestaltet ist. (Als Folge davon tauchten im Sommer 2018 Einhorn-Aufblasboote als Aktionsprodukt in mehreren Handelsketten auf.^[In den Niederlanden, wo ich wohne, in den großen Handelsketten _Action_ und _Blokker_.]) Das Einhorn ist somit Teil eines größeren Komplexes des Reitpferds als stereotypem Gegenstand kindlicher und jugendlicher, weiblich konnotierter Erotik. Jedoch ist es im Gegensatz zum gewöhnlich Pferd magisch, daher nicht an feste Orte gebunden und kann - als intime Kleidung, als Speise - buchstäblich einverleibt werden. Im 19. Jahrhundert differenzierte der Anthropologe James George Frazer "imitative" Magie, zum Beispiel im Nachahmen eines starken Tiers, von "ansteckender" Magie wie dem Tragen eines Tierzahns als Talisman an der Haut, beide mit dem Ziel, die Stärke des Tiers auf den Menschen zu übertragen.^[xxx] Diese Unterscheidung verwendete der Linguist Roman Jakobson später als Grundlage seiner Neudefinition von (imitativer) Metapher und (kontiguitiver) Metonymie.^[xxx] Die zeitgenössische Einhorn-Popkultur jedoch ist imitativ-magisch _und_ ansteckend-magisch zugleich, beziehungsweise metaphorisch _und_ metonymisch: Einhorn-Pyjamas, -Würste und -Boote sind sowohl Einhorn-Imitationen, als auch am Körper getragene oder in den Körper einverleibte An-Steckungen. Dies gilt selbst für die (vermeintlich) körperlose Einhorn-Memes, die sowohl Nachbildungen von Einhörnern sind, als auch ansteckend in ihrer viralen Verbreitung. # Rückblick Dass die heutige Einhorn-Bildkultur auf japanischer Manga-Ästhetik basiert, ist kein Zufall. Das wahrscheinlich erste moderne, verniedlichte Pastell-Einhorn, _Unico_, wurde 1976 von Osamu Tezuka als Hauptfigur einer gleichnamigen Kinder-Comicheftserie gezeichnet, mit hellblau-weißem Körper, rosa Haar und Schoßhund-ähnlichen Proportionen. Damit ähnelte _Unico_ äußerlich stark der Comicfigur _Kimba, der weiße Löwe_, die Tezuka zuerst in den 1950er Jahren gezeichnet hatte und Hauptfigur der gleichnamigen Zeichentrickserie wurde, die seit den 1970er Jahren unter anderem im ZDF-Kinderprogramm ausgestrahlt wurde. Das heutige Regenbogen-Einhorn entstand, möglicherweise durch _Unico_ inspiriert, in den frühen 1980er Jahren in der Firma der amerikanischen Illustratorin Lisa Frank. Es hat sich seitdem in Form und Farbe nur unwesentlich verändert. Viele Internet-Einhorn-Memes sind Lisa Frank-Einhörner mit nachträglich darübergelegtem Text. _Lisa Frank Incorporated_ wuchs in den 1980er und 1990er Jahren zu einer der größten amerikanischen Marken für Schulbedarf für Kinder und Teenager. Besonders populär waren ihre Schnellhefter, die in einem verwestlichten Manga- und Kinder-Fantasy-Stil gezeichnete Einhörner, Pferde, Katzen, Kaninchen, Rehe, Eisbären, Seehunde, Pandabären, Leoparden, Clowns in schrillen Pastell- und Regenbogenfarben und naiv-psychedelischen Bildkompositionen zeigten. Diese waren bereits am Computer gezeichnet und nahmen in ihrer digitalen Buntheit die Ästhetik der Internet-Meme-Bildkultur vorweg. Motivisch und bildsprachlich verwandt war die 1982 zunächst als Spielzeug auf den Markt gebrachte Figur _My Little Pony_ des Konzerns Hasbro, ein pastellfarbenes, im Manga-Stil gezeichnetes, kindlich-verniedlichtes Pony in verschiedene Figuren, von denen eine - "Rainbow Dash" - mit hellblauem Körper und regenbogenfarbiger Mähne und Schweif versehen ist. _My Little Pony_ wurde zur Marke ausgebaut und für unzählige Verbraucherprodukte lizenziert. In ihrem 2017 erschienenen Buch _Ponyville Confidential: The History and Culture of My Little Pony_ rekonstruiert die Sachbuchautorin Sherilyn Connelly die "weiblichen Stereotypen und Ängste vor Weiblichkeit, mit denen das Lizenzprodukt seit den 1980er Jahren belastet war".^[xxx, 99] Auch in der Fernsehwerbung für _My Little Pony_-Produkte treten nur Mädchen im vorpubertären Alter auf. Im Netzforum _4chan_, das als anonymes Manga-/Anime-Fanmedium enstand und zum Brutplatz der Internet-Meme-Kultur und der maskierten _Anonymous_-Bewegung wurde, wurde das 2010 erschienene Computerspiel _Robot Unicorn Attack_ populär und hatte zahllose Memes und Fan-Comics zur Folge. Im selben Jahr kam es auf _4chan_ zu den "Pony Wars" zwischen männlichen _My Little Pony_-Fans und _My Little Pony_-Hassern. Eine Rolle spielte hier auch die (männlich) sexuelle Aufladung von _My Little Pony_ in der auf 4chan stark präsenten "Furry"-Subkultur, deren Teilnehmer sich als anthropomorphe Pelz-Cartoontiere verkleiden und diese teilweise auch sexuell fetischisieren. Die "Pony Wars" führten zur letztlichen Auslagerung von _My Little Pony_-Memes und -Postings in ein spezialisiertes Unterforum "/mlp". Vor allem aber waren sie Vorbote des Entstehens militant frauenfeindlicher und rechtsextremistischer Subkulturen auf 4chan, die das Forum ab 2014 zum Labor der "Alt Right" machten, von dem aus im Jahr 2016 der "Meme War" für Donald Trump und amerikanische Neofaschisten geführt wurde. Lisa Frank-Produkte und_My Little Pony_ waren in den USA, Südamerika und den Philippinen populär. Erst ab 2010 wurden _My Little Pony_-Produkte in größerem Umfang in Europa vertrieben, womöglich bereits als Folge der Bild- und Memekultur des Internets. Lisa Franks Firma erreichte ihre höchsten Umsatzzahlen in den späten 1990er Jahren. Danach geriet sie in eine Existenzkrise durch die Scheidung des Gründerpaars Lisa Frank und James Green. Beiden wurde Kokainsucht und menschenschindende Betriebsführung vorgeworfen. Die bei Lisa Frank angestellten Illustratoren verpassten der Firma den Spitznamen "Rainbow Gulag".^[xxx] Rückblickend bilden Lisa Franks Produkte nicht nur das historische Bindeglied zwischen "Unico"-Mangas und Internet-Memes, sondern auch die verlorene Kindheitsästhetik der in den 1980er und 1990er Jahren geborenen "Millennial"-Generation. Der Bedeutungswandel des Einhorns in dieser Generation zeigt sich am Vergleich zu einer älteren, amerikanischen Subkultur des sogenannten "Invisible Pink Unicorn (IPU)". Sie entstand 1990 im Internet-Forum _alt.atheism_ als parodistische Anti-Religion (ähnlich dem bekannteren "Flying Spaghetti Monster"): Das Einhorn, das sowohl unsichtbar, als auch rosa ist, ist Fabel und logische Unmöglichkeit und verkörpert daher, was der Atheist Richard Dawkins später "God Delusion" nannte. Sein gleichnamiges Buch nennt das "unsichtbare, untastbare, unhörbare Einhorn" als Beispiel von Glauben als nicht-widerlegbarer Hypothese.^[(Dawkins, 53)] Während das _Invisible Pink Unicorn_ Einhörner zu überkommenen Aberglauben und Kitsch stempelt, kehrt Einhorn-Magie in den Regenbogen-Einhörner der 2000er Jahre eine Renaissance, wenn auch halbironisch als Camp. In Deutschland und Teilen Europas ist die Ästhetik der Einhörner, fliehenden weißen Pferde, Regenbogen und computergerenderten Prismen, Spiegel- und Glasoberflächen spezifischer für die späten 1980er Jahre, unter anderem in der Covergestaltung und den Musikvideos des Popschlagerduos Modern Talking (u.a. für die LPs _The 2nd Album_ und _Romantic Warriors_, die Single _Brother Louie_und die Computereffekte des Musikvideos _Geronimo's Cadillac_). Hier ist das Einhorn einerseits Traumkitsch von der Resterampe der europäischen Romantik.^[Eine Literaturgeschichte des Einhorns versammelt Jochen Hörischs Anthologie _Das Tier, das es nicht gibt_.] Andererseits imitiert Modern Talkings Grafik- und Mediendesign amerikanische Film- und Fernsehästhetik seiner Zeit, vor allem die damals stilbildende Serie _Miami Vice_. # Populismus Hieran knüpft ab 2010/11 die musikalische und visuelle Subkultur des _Vaporwave_ an, die 80er Jahre-Synthesizerpop (im Eurodisco-Stil von Giorgio Moroder, Modern Talking und anderen) imitiert, in größtenteils anonym oder pseudonym produzierten und übers Internet gratis verteilten Instrumentaltracks und in ihren Meme-artigen Computergrafiken Versatzstücken aus alten 8bit-Computerspielen, 90er Jahre-Microsoft Windows-Bedienelementen, computergerenderten Spiegeleffekten und Lisa Frank-ähnlichen Regenbogen und Tierfiguren vermischt, in einer Camp-Version der metallic-pastelligen visuellen Sprache von Modern Talking, Miami Vice und Verwandten. Einhörner sind ein populäres Bildelement in Vaporwave-Bildern, auch hier fast immer in Pastell- und Regenbogenfarben, visuell oft abgeleitet von _My Little Pony_ und dem _Invisible Pink Unicorn_. Auch _Vaporwave_ hatte seine Ursprünge auf 4chan, von wo es auf das Musikforum _/mu/essentials_ migrierte. Der erste Vaporwave-Sampler "/mu/ VAPORWAVE ESSENTIALS" aus dem Jahr 2012 erschien mit dem folgenden Manifest: > "Global capitalism is nearly there. At the end of the world there will only be liquid advertisement and gaseous desire. Sublimated from our bodies, our untethered senses will endlessly ride escalators through pristine artificial environments, more and less than human, drugged-up and drugged down, catalysed, consuming and consumed by a relentlessly rich economy of sensory information, valued by the pixel." Dies ist ein Pastiche aus 80er-Jahre-Baudrillard und der "Cyber"-Popkultur der frühen 90er Jahre, mit apokalyptischem Grundton des Endes der Geschichte durch den globalen Kapitalismus, mit der Implikation, dass nur Retrobewegungen noch Handlungsspielräume eröffnen. Vaporwave und alle zuvor genannten populären Internet-Bildkulturen (einschließlich der Lisa Frank- und Little Pony-Memes sowie dem auf 4chan enstandenen "Nyan Cat"-Meme einer fliegenden weißen Katze mit regenbogenfarbigem Kondensstrahl) sind daher nicht nur nostalgische Rekonstruktionen verlorener Kindheit. Sie drücken ein populistischen Begehrens nach Handlungsräumen aus, die in die Vergangenheit projiziert werden. Donald Trump, als Prominenter der amerikanischen 1980er Jahre und des Fernsehzeitalters, verkörpert diese Macht der Handlung gegenüber dem "Ende der Welt" durch den "globalen Kapitalismus". Ab 2015 entstand neben dem Hauptstrom der Vaporwave die Parallelbewegung des _Fashwave_, von neofaschistischen und Trump-Unterstützer-Bildern und Elektropopcollagen im Vaporwave-Stil. Das wichtigste Medium der militanten Alt-Right-Bewegung, der Blog _The Daily Stormer_ (benannt nach der Nazi-Zeitung _Der Stürmer_), ist im Vaporwave-Stil gestaltet und verbreitet neofaschistische Memes. Zu seinen Betreibern gehört der berüchtigte Troll _weev_ (Andrew Auernheimer), den die Medienwissenschaftlerin Gabriella Coleman in ihrem Buch über 4chan und die ältere Anonymous-Bewegung porträtiert.^[(Coleman).] In Fashwave-Bildern finden sich keine Einhörner oder _My Little Pony_-Figuren, sondern Kriegspferd und Zentaur als Männlichkeitssymbole, in der Fortsetzung klassisch-faschistischer, hier jedoch pink-metallic gefärbter Ästhetik. Dennoch gibt es einen gemeinsamen Nenner aller bisher besprochenen rosa Einhörner und Anverwandten, von Lisa Frank bis Vaporwave: Ihre Zielgruppe ist nicht nur extrem polarisiert zwischen weiblich und (in geringerem Umfang) männlich, so dass jede Grenzüberschreitung Konflikte wie die "Pony Wars" provoziert. Sie ist auch ethnisch weitgehend homogen. In den US-amerikanischen Lisa Frank-Werbespots der 80er und 90er Jahre sind ausschließlich weiße (in der Regel blonde) Mädchen zu sehen. Selbst heute noch zeigt die Fernsehwerbung für _My Little Pony_ - in den USA, Australien und Brasilien - ausschließlich Mädchen, die entweder weiß oder weiß-gemischt sind. Seit _Kimba, der weiße Löwe_ ist _whiteness_ entscheidendes Attribut sowohl der Zeichenfiguren, als auch ihrer Zielgruppe. (In Mittelalter und Frühneuzeit wird das Einhorn häufig, aber nicht ausschließlich als weisses Tier dargestellt, z.B. auf dem _Tapestry of the Lady and the Unicorn_ aus dem späten 15. Jahrhundert, im _Tudor bestiary_ aus dem 16. Jahrhundert oder Domenico Zampieris Fresko des Einhorns und der Jungfrau aus dem frühen 17. Jahrhundert. Einhörner mit dunklem Fell sind aus der heutigen Internet-Bildkultur praktisch verschwunden.) Auch die Popstars im Einhornkostüm sind ausschließlich weiblich und weiß. Taylor Swift, die im Jahr 2014 Bilder von sich im schneeweißen Einhorn-Kostüm mit Engels- bzw. Pegasusflügeln via Instagram verbreitete, wurde (ohne ihre Zustimmung) zum Idol amerikanischer Neonazis und Bildmotiv rassistischer Alt-Right-Memes, was die Kulturwissenschaftlerin Adriane Brown bereits im Jahr 2012 auf ihr in Bild und Songtexten kultiviertes Image als "weißes, heterosexuelles, normativ-weibliches Mittelschicht-Mädchen" und "good girl" zurückführt.^[(Brown).] In der amerikanischen Popkultur schafft die Bildwelt magischer Einhörner, Ponies, Pegasus-Pferde schafft so einen weiß-nostalgischen _safe space_; eine unbeschädigte, regressive Gegenwelt zu den politischen Zumutungen afroamerikanisch-postkolonialer Bilderzählungen wie der Videos von Beyoncé. Darüber lebt das heutige Meme-Einhorn von seinem Widerspruch, dass es zugleich exklusiv ist und massenreproduziert - derselbe Widerspruch von Verborgenheit und Sichtbarkeit, der auch im _Invisible Pink Unicorn_ angelegt ist, sowie in der 2013 entstandenen Silicon Valley-Wortprägung des _Unicorn Startup_ für Gründerbetriebe, die noch nicht an der Börse notiert sind und mehr als eine Milliarde Dollar wert. Den Widerspruch von Exklusivität und Massenreproduktion aufzulösen verspricht auch die _Unicorn Coin_, eine in der Schweiz konzipierte Kryptowährung, die pastellige Comic-Einhörner als ihr Wappentier verwendet, die sie als "People's favourite symbol" und "Magical Creature" für den "Excellent Purchase" der Währung bewirbt.^[(Unicorn Coin).] Das Einhorn verspricht Individualisierung, sowohl durch autoerotische An-Steckung wie im _Cosplay_, als auch in gegenseitiger Beziehung. Dieses Versprechen ist so unendlich reproduziert und stereotyp wie das vom Märchenprinzen, dessen geschlechtsfluide, posthumane, stumme Variante das Einhorn ist. Genau diesen Widerspruch jedoch löst die Meme-Kultur in der Halbironie und im Camp auf. Die Schwäche der radikal-rationalistischen _Invisible Pink Unicorn_-Subkultur ist darum die Stärke der Memekultur: dass sie Widersprüchlichkeit aushält und sogar zelebriert. Auch in diesem Sinne ist die Einhorn-Memekultur populistisch und zeigt sich an ihr auf, warum Populismus mit kritisch-rationaler Widerlegung nicht beizukommen ist.