Warum es zuwenig interessante Netzdichtung gibt.
Neun Thesen.
Florian Cramer
c/o Freie Universität Berlin, Seminar für Allgemeine
und Vergleichende Literaturwissenschaft, Hüttenweg 9, 14195
Berlin
27.4.2000
Contents
1 Das Internet
ist ein literarisches Medium
Das Internet ist das erste neue Massenmedium des zwanzigsten
Jahrhunderts, das auf einem Code basiert, der - wie Morsecode - der
Logik eines Alphabets folgt. Das Internet basiert also auf Text.
Nicht nur die Daten, die in ihm übertragen werden -
E-Mail-Nachrichten, Web-Seiten und selbst Töne und Bilder - sind
textuell codiert. Auch die Programme, die für diese
Datenübertragung sorgen, sind Texte, die Computer mit
Maschinenbefehlen ansteuern.
Damit erübrigt sich die Frage, ob es Literatur im Internet
gibt. Das Internet ist eine Literatur, ein Buchstabenwesen.
Seine Poesie zu finden, ist Aufgabe des Lesers. Es gibt gute
Gründe, den selbstmodifizierenden Programmcode eines
ingeniös konstruierten Computerviruses für interessantere
Computernetzliteratur zu halten, als zum Beispiel die Dichtungen, die
sich im Electronic Poetry Center http://epc.buffalo.edu/ der
State University of New York at Buffalo versammelt finden.
Dichtung, die vom Buch ins Netz - von der Gutenberg- in die
Turinggalaxis - wandert, unterwirft sich denselben Bedingungen, unter
denen Text im Netz sich figuriert. Als Computerdichtung wird sie erst
dann interessant, wenn sie digitale Sprachcodes reflektiert und mit
ihnen dichtet. Dichtungen, die Schreibpapier und Druckseiten im
Web-Browser emulieren, sind nicht Gegenstand meines Vortrags.
2 Netzdichtung
sollte das Internet nicht nur als flüchtiges Aufschreibe- und
Distributionssystem nutzen
Literatur wie Null [het99], ampool
und Rainald Goetz' Abfall für alle, die das
Internet als temporäre Schreib- und Distributionsplattform
benutzt, ist als Computernetzliteratur im engeren Sinne
uninteressant, weil sie besser auf dem Papier gelesen werden kann.
Man könnte dagegen einwenden, daß Dichtung, die in einem
elektronisch vernetzten Diskurs entsteht und diesen reflektiert, auch
dann Netzdichtung ist, wenn sie im Buch erscheint oder mündlich
vortragen wird. Tatsächlich ist dieses Argument häufig zu
hören, wenn es darum geht, Netzkünste zu definieren.
,,Computernetzliteratur" global als ,,Literatur im
Netz" zu definieren, erscheint deshalb nicht hilfreich, weil mit
solch einer Definition mittel- und langfristig nichts mehr zu
unterscheiden sein wird. Schon jetzt gehören elektronische
Netzwerke wie Telefon und Fax zur literarischen Produktionstechnik,
und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die Korrespondenz
von Autoren, Lektoren, Übersetzern, Setzern und Druckern
vollständig ins Internet verlagern wird. So werden Bücher
im selben Maße ,,Internetliteratur" sein, wie sie heute
bereits ,,Computerliteratur" sind, seitdem der PC die
Schreibmaschine und der Satzcomputer die Gutenberg-Lettern
abgelöst hat.
Bücher werden das wichtigste Medium der Literatur bleiben,
solange Computer mit Bildschirmflimmern, Lüfterlärm und
fragiler Software eine feindliche Umgebung fürs konzentrierte
Lesen schwieriger Texte schaffen. Dichtung, die tatsächlich im
Internet für das Internet geschrieben wird, bleibt vorerst die
Ausnahme. Nur um die Frage, was eine Literatur auszeichnet, die, um
lesbar zu sein, Computer und Internet zwingend voraussetzt, soll es
hier gehen.
Die Frage, weshalb es zuwenig interessante Dichtung im Netz
gibt, könnte deshalb auch anders lauten: Weshalb gibt es zuwenig
Dichtung im Netz, die ihre technische Konfiguration reflektiert?
3 Netzdichtung
ist nicht gleich ,,Hypertext"-Dichtung
Der Begriff ,,Netzdichtung" oder
,,Netzliteratur"1 unterschlägt, daß er nur
digitale Netzliteratur meint. Doch auch vor der Erfindung des
Computers entsteht Literatur kollaborativ in Kommunikationsnetzen, so
z.B. die poetischen Spiele der Nürnberger Pegnitz-Schäfer
im 17. Jahrhundert,2 der Briefroman im 18. Jahrhundert, die
Salonliteratur im 19. Jahrhundert und Mail Art-Dichtung wie
Wolf Vostells und Peter Faeckes Postversandroman im 20.
Jahrhundert.
Netzdichtung, die im Computer entsteht und als Datenstrom
fließt, statt sich auf Buchseiten zu verfestigen, ist
ihrerseits Teil eines größeren Komplexes von
Computernetzkünsten. So haben Künstler und Gruppen wie jodi
http://www.jodi.org, Heath
Bunting, dem ASCII Art Ensemble, I/O/D http://www.backspace.org/iod/
und 0100101110101101.org http://0100101110101101.org
Mitte der 1990er Jahre eine konzeptualistische und ironische
Netzkunst begründet, die unter anderem auf der Documenta
X und in der Ausstellung net.condition des Karlsruher
ZKM präsentiert - und historisiert - wurde. In der
Computernetzmusik vollzieht sich zur Zeit ein technischer Umbruch,
dessen trivialster Aspekt herunterladbare Tonaufnahmen im
mp3-Format sind. Internet-gestützten, teilautomatisch
erzeugte Partituren und Kompositionen wie jene von Karlheinz Essl
http://www.essl.at weisen
weit über diese Konserven hinaus. Gegenüber diesen anderen
Netzkünsten hat die Computernetzdichtung bislang eher
uninteressante Ergebnisse gezeitigt. Manche Netzliteraturkritiker
haben deshalb stillschweigend die konzeptuelle Netzkunst zur besseren
Netzdichtung erklärt.3 Ausgeprägt ist der Rückstand
der Netzliteratur auch im theoretischen Diskurs über das
Internet, den ihre Protagonisten führen. Während im Umfeld
anderer Netzkünste Politik und Machtstrukturen des Netzes schon
seit Jahren kritisch reflektiert werden, kreisen internationale
Netzliteratur-Diskussionen nach wie vor um naive
Freiheitsverheißungen von ,,Hypertextualität" und
,,Multimedialität".
Daß die Geschichte der Netzdichtung eine Geschichte
konzeptueller Mißverständnisse, zeigt beispielhaft der
Einband des Sammelbands Hyperfiction [SB99].
Der Untertitel des Buchs lautet ,,Hyperliterarisches Lesebuch:
Internet und Literatur". Darunter abgebildet ist eine CD-ROM. Es
bleibt nicht bei der Abbildung, tatsächlich liegt dem Buch eine
CD-ROM bei, die fast alle der ,,Netzdichtungen" enthält,
auf die sich die gedruckten Beiträge beziehen. Diese sogenannte
Internet-Literatur braucht also gar kein Internet.4
Das Konzept ,,Hyperfiction", abgekürzt für
,,Hypertext fiction", hat seine Wurzeln an der amerikanischen
Brown University. Seine bekanntesten Theoretiker sind der Philosoph
David Jay Bolter und der Literaturwissenschaftler George Landow
[Lan92], seine bekanntesten Praktiker
Michael Joyce, Autor des ,,Hyperfiction"-Romans
Afternoon [Joy90], Stuart
Moulthrop, Autor von Victory Garden und, als einziger
über das Genre hinaus bekannter Schriftsteller, Robert Coover,
der sich mit ,,Hyperfiction" allerdings nur in Manifesten und in
Schreibseminaren befaßt hat.5
,,Hyperfiction", wie sie an der Brown University
verstanden und gelehrt wird, ist keine Internet-Literatur. Sie wurde
dort in den späten 1980er Jahren als Dichtung für
PC-Disketten und -CD ROMs konzipiert, offenkundig ohne Kenntnisnahme
von Datennetzen. In Amerika wird diese ,,Hyperfiction" weiterhin
von spezialisierten Verlagen wie Eastgate auf Diskette
vertrieben, funktioniert ohne Internetzugang, ohne Webbrowser und
wird schon aus kommerziellen Erwägungen heraus nicht ins World
Wide Web gestellt.
4 ,,Hypertext" ist nicht gleich
Computernetztext
Was Hypertext ist, bedarf heute keiner detaillierten
Erklärung mehr. Sein Konzept entstand in den 1940er Jahren und
bezog sich weder auf Computer, noch auf Datennetze, sondern auf
mechanische Leseapparate. Konzipiert war das Proto-Hypertextsysten
,,Memex" als Mikrofilmgerät mit maschinell
unterstützten Querverweisen.6 Auch der digitale
Hypertext nutzt - im Unterschied zu Programmiersprachen - den
Computer bloß als Speicher- und Anzeigegerät. So machen
Hypertexte nur einen äußerst restringierten Gebrauch von
den Möglichkeiten des Computers, Texte und Sprache zu
prozessieren.
Daß Computernetzdichtung und Hypertextdichtung immer
wieder synonym verwandt werden,7 mag den
ästhetischen und konzeptuellen Rückstand der Netzliteratur
gegenüber anderen Netzkünsten erklären. Die
Gleichsetzung von Netzdichtung und Hyperfiction ist so falsch wie die
Gleichsetzung des Internets mit dem World Wide Web. Neben zum
Beispiel E-Mail, Newsgroups, IRC, ICQ und Napster ist das World Wide
Web nur einer von unzähligen Internetdiensten, und ob es in zehn
oder zwanzig Jahren noch in seiner jetzigen Form existieren oder
populär sein wird, ist keineswegs gewiß.
5 ,,Hypertext" fügt dem
literarischen ,,Text" nichts hinzu
Nicht minder problematisch ist, daß im Diskurs der Brown
University-Schreiber und ihrer Netzliteratur-Epigonen das Wort
,,Hypertext" zu wörtlich genommen wurde als
Hypertrophierung des papiernen Textes. Im Hypertext, so die Annahme,
transformiere sich der bislang lineare Drucktext in ein
nichtlineares, dezentriertes Medium; Gleiches geschehe, wenn
,,fiction" zu ,,hyperfiction" werde.
Diese Annahme ist das historische Produkt einer sehr
spezifischen Kultur, Ergebnis eines Konflikts von
Computer-Schreibexperimenten mit der Didaktik der klaren Prosa und
des ,,good style" in den ,,creative writing"-Seminaren
amerikanischer Universitäten. Daß daraus eine allgemeine
Textpoetik abgeleitet wurde, hatte eine Serie von
Mißverständnissen zur Folge, die sich bis heute beharrlich
gehalten haben.
,,Hypertext" ist kein Begriff der literarischen
Texttheorie, sondern ein Konzept der technischen Organisation von
Informationen, das heißt: ein Datenbankmodell. Hypertext
konkurriert daher mit anderen Datenbankmodellen, die Informationen
tabellarisch, relational oder hierarchisch erfassen. Ein PC mit
Bürosoftware bietet heute alle diese Möglichkeiten:
- die hierarchische Organisation von Daten in der Ordnerstruktur
des Dateisystems;
- die tabellarische Organisation von Daten mit
Kalkulationssoftware wie Excel;
- die relationale Organisation von Daten in verknüpften
Tabellen mit Datenbanksoftware wie FileMaker und
Access;
- die hypertextuelle Organisation von Daten durch Querverweise
mit einem Webbrowser oder symbolische Links im Dateisystem.
Im Unterschied zu herkömmlichen Textdateien, die im
Dateisystem eines Computers abgelegt werden, sind in
Hypertext-Dateien Textinformation und Dateiorganisation nicht
voneinander getrennt, sondern miteinander vermengt. Für den
Leser am Computer hat dies den Vorteil, zum Blättern nicht mehr
vom Textfenster ins Dateifenster wechseln zu müssen, wie es beim
Wechsel von einem PC-Textverarbeitungsprogramm zur Dateiorganisation
nötig ist und bei Gopher, einem Vorläufer des World Wide
Web, noch nötig war. Da die Übersicht über die
Dateistruktur einer Website im World Wide Web verloren geht, wenn sie
nicht im Textcode selbst nachgebildet wird, ist Gopher das
transparentere System.
Als Datenbankmodell hat Hypertext selbst im World Wide Web
Bedeutung eingebüßt. Suchmaschinen, die auf relationalen
Datenbanken basieren, sind das populärere Rechercheinstrument im
Internet, und auch der Text komplexer Websites - Buchkataloge,
Nachrichtendienste, Firmenpräsentationen - wird fast immer aus
relationalen Datenbanken generiert.
Gegenüber dem papiernen Text ist ,,Hypertext" nicht
einmal ein neues Konzept. Mit Seitennummern, Inhaltsverzeichnissen,
Begriffsindizes und Fußnoten vermengen sich auch in
Büchern Textinformation und -navigation. Daß darüber
hinaus jeder Text aus Quer- und Selbstverweisen besteht und
assoziativ gelesen wird, ist eine Grunderkenntnis, die schon in der
Abkunft des Worts ,,Text" vom lateinischen ,,textum", dem
,,Gewebe", steckt. Daß ,,Hyperfiction"-Apologeten
glauben, dies erst am Computer erfunden zu erhaben oder diese
Beobachtung, die unter anderem in der poststrukturalistischen
Literaturtheorie formuliert wurde, - als banale Verschaltungstechnik
implementieren zu müssen, spricht gegen ihre literarische und
poetologische Kompetenz.
Ein Roman wie Kafkas Proceß unterscheidet sich
von einer ,,Hyperfiction" wie Michael Joyces Afternoon
[Joy90] dadurch, daß er die
Verstrickungen seines Erzählgewebes weniger offenkundig
exponiert. Aber auch jede ,,hypertextuelle" Organisation eines
Texts erzeugt in sich ,,lineare" Erzählblöcke, die
innerhalb einer linearen Zeitspanne gelesen werden. Vergleicht man
z.B. Diderots Enzyklopädie oder eine gewöhnliche Bibel mit
einer ,,Hyperfiction", so bietet der Computer-Hypertext
lediglich eine andere Benutzeroberfläche.8 Diese
Oberfläche schränkt die Lektüre ein, weil sie wie das
Ganze verbirgt und den Leser auf auktorial vorgegebene Pfade
zwingt.9
Insgesamt erscheint es ein Irrtum, wenn ,,Hyperfiction",
wie in der Stroemfeld-Anthologie und anderswo, für die quasi
natürliche Form von Computernetzdichtung gehalten wird. Vielmehr
erscheint sie als Spezialgenre von Labyrinthtexten, das verwandt ist
mit textbasierten Abenteuer- und Rollenspielen. Seit den 1970er
Jahren werden diese Spiele wahlweise mit Anleitungsbüchern oder
auf Computern gespielt. Nicht anders verhält es sich mit
Hypertext-Labyrinthen, die mit Computern und Internet eine zwar
naheliegende, aber keinesfalls zwingende Verbindung eingegangen sind.
6 Der Browser ist
nicht das Internet
Wird ,,Hyperfiction" vor allem als Prosaform begriffen, so
knüpfen viele Netzlyriker an die Traditionen von konkreter
Poesie und Fluxus an. Unter dem Label New Media Poetry
entstehen intermediale Gedichte, die - so ist zu beobachten - vor
allem mit Möglichkeiten bewegter Bildschirmtypographie
experimentieren, die der Buchdruck nicht bietet.
Das Gedicht After Emmett
http://net22.com/qazingulaza/joglars/afteremmett/bonvoyage.html
von Miekal And, offenbar eine Hommage an den Fluxuskünstler und
konkreten Poeten Emmett Williams, zum Beispiel dynamisiert seine
Typographie, indem die Buchstabenformen im Zehntelsekundenrhythmus
wechseln. Es ist eine Serie von Sätzen, die aus jeweils drei
tabellarisch angeordneten Wörtern von jeweils drei Buchstaben
bestehen wie z.B. ,,eye" / ,,voy" / ,,age",
,,cir" / ,,cus" / ,,ear" und ,,wat" / ,,ers"
/ ,,who". Die kinematisch flackernden Buchstaben - die ohne
Programmieraufwand als einfache Bildanimationen gestaltet wurden -
ermuntern ihren Leser dazu, das Gedicht auch auf der Vertikalachse zu
lesen.
Figure 1: Drei Momentaufnahmen von Jim Andrews, Seattle
Drift
Einen höheren technischen Aufwand betreibt Jim
Andrews' Gedicht Seattle Drift http://www.vispo.com/animisms/SeattleDrift.html,
in dem ein für den Webbrowser geschriebenes Computerprogramm die
Buchstaben auf dem Bildschirm bewegt. Die Wörter ,,SEATTLE DRIFT
/ I'm a bad text . / I used to be a poem / but drifted from the
scene . / Do me . / I just want you to do me ." driften auf
Knopfdruck auseinander, bis sie sich über das gesamten
Bildschirmfenster zerstreut haben. Das Gedicht erweitert somit die -
seit Optatianus Porfyrius in der Spätantike und seit Julius
Caesar Scaliger in der Renaissance - tradierte Form des
Wortpermutationsgedichts, indem es seine Wörter nicht nur in
Einzelschritten, sondern dynamisch und in Echtzeit, in einem
zweidimensionalen Feld statt nur innerhalb einer Zeile vertauscht.
Die Zeile ,,Do me." weist zudem, in zweideutiger Ironie, auf ein
wichtiges Charakteristikum von Computerliteratur hin: Ihr Text wird
maschinell ausführbar. Paradox ist der Satz ,,I used to be a
poem / but drifted from the scene", weil er nur lesbar ist,
solange das Gedicht weggeschwommen (,,drifted") ist; oder er
impliziert gerade, daß das Gedicht in seinem geordneten
Zeilenkorsett kein Gedicht mehr ist, sondern ein fehlpermutierter
,,bad text" eines ursprünglich chaotisch fließenden
Texts. Was das Gedicht allerdings verbirgt, wenn es dazu auffordert,
seinen Text auszuführen, ist der Programm-Steuercode eben dieser
Aus- und Aufführung.
Ein Problem nicht nur der Gedichte von And und Andrews, sondern
fast der gesamten New Media Poetry im Internet ist,
daß sie nur mit komplexen graphischen Webbrowsern wie Netscape
und Internet Explorer gelesen werden können. Oftmals sind auch
spezielle Zusatzprogramme nötig, und nicht selten erweisen sich
solche Arbeiten als inkompatibel zu neueren Versionen der
Browser-Software. Dieses Problem hat nicht nur experimentelle
Netzlyrik, sondern es ist in allen Netzkünsten virulent.
Digitale Kunstwerke, so hat sich herausgestellt, sind einem viel
schnelleren Verfall ausgesetzt sind als traditionelle Kunstwerke.
Institutionen wie das Karlsruher ZKM beschäftigen sich schon
jetzt damit, digitale Kunstwerke zu konservieren, die nur wenige
Jahre alt sind. Wegen ihrer fragilen Softwarekonfigurationen werdem
Netzkunstwerke, obwohl vorgeblich im weltweiten Netz beheimatet,
bevorzugt in Ausstellungen und auf Festivals präsentiert. Dieser
Trend könnte sich noch verstärken, sobald
großkalibrige Personal Computer und monolithische Browser nicht
mehr die Regel-, sondern die Ausnahmekonfiguration für den
Internetzugang sind und Netzdienste stattdessen über eine
Vielzahl mobiler Kleingeräte genutzt werden.
Selbst für ein elaboriert programmiertes Gedicht wie
Seattle Drift gilt dasselbe wie für die meisten
,,Hyperfiktionen": Sie sind nicht auf das Internet angewiesen,
sondern funktionieren ebenso gut auf Diskette und CD-ROM. Man
könnte sie sogar ganz ohne Computertechnik als kinetische
Textskulpturen konstruieren und ausstellen. Fast alle
Computernetzdichtung - auch fast all jene Netzkunst, die zum Beispiel
auf der net.condition des ZKM ausgestellt wurde - ist,
technisch gesehen, zumindest keine Dichtung, die auf das Internet
angewiesen ist, sondern reine Browser-Dichtung. Im besten Fall spielt
sie immerhin damit, daß die Repräsentation gemeinhin
für das System, der Browser so für das Netz gehalten wird
wie (um den polnisch-amerikanischen Sprachkritiker Alfred Korzybski
zu zitieren) die Karte für das Land, wenn man Zeichen für
das hält, was sie bezeichnen.
7 Es gibt keinen
multimedialen Computercode
Da Miekal Ands Gedicht After Emmett nicht im Textcode,
sondern als Graphik auf dem Netzcomputer abgespeichert ist und auch
als Graphik dargestellt wird, erkauft es die Freiheit seines
visuellen Spiels um den Preis, daß seine Schrift auf anderen
Computern nicht mehr als Schrift prozessierbar ist. An die Stelle der
Sprachinformation tritt ein anderer Code, der nicht mehr die
Buchstaben, sondern nur noch das visuelle Raster der Graphiken
speichert. Verloren geht dabei nicht nur Information, sondern auch
Vedichtung. Daß ein Bild mehr sage als tausend Wörter, ist
aus informationstheoretischer und computertechnischer Sicht falsch.
Die neun Bildbuchstaben aus Miekal Ands After Emmett
beanspruchen auf der Festplatte soviel Speicherplatz wie der gesamte
Romantext von Laurence Sternes Tristram Shandy.
Die erste These lautete, daß das Internet ein
literarisches Medium, also ein Textmedium ist. Auch Bilder und
Töne werden auf Computern als Codesequenzen gespeichert und als
Codesequenzen - also Text - übertragen. Zu Bildern und
Tönen werden ihre Daten erst dann, wenn sie die
Datenverarbeitung der Maschine verlassen und mit Graphik- und
Audioprozessoren des PCs von digitalen in analoge Daten
zurückgewandelt werden.
Bilder und Töne sind deshalb tote Datenmaterie im
Internet. Jede Suchmaschine kann in einem Textkorpus alle Sätze
mit dem Wort ,,Vogel" finden, und ein Programm könnte sie
zu einem Haiku montieren. Mit Bild- und Tondateien ist dies so nicht
möglich. Keine Suchmaschine kann, ohne künstliche
Intelligenz, in einem digitalen Tonarchiv Vogelstimmen oder aus einer
Bilddatenbank Photographien von Vögeln finden und auswerten.
Weil der Computer eine Maschine ist, die Textcode umformt und
ausführt, ist maschinell erzeugte und gefilterte Sprache keine
Domäne jener frühen konkreten Poesie und
Oulipo-Dichtung,10 die Reinhard Doehl in seinem
Eröffnungsvortrag zu dieser Ausstellung beschrieben hat.
Computergenerierte Sprache ist ein Alltagsphänomen. Die Software
auf Computern und Internet-Servern greift ebenso massiv wie unbemerkt
in die natürliche Sprache ein: Rechnungen, Mahn- und Werbebriefe
werden automatisch erstellt, Suchmaschinen generieren Texte aus
anderen Texten, Filter digestieren Mailinglisten-Beiträge, die
Textverarbeitungssoftware, mit der ich diese These geschrieben habe,
formatiert Datenbankeinträge zu bibliographischen Angaben,
schreibt das Wort ,,Inhaltsverzeichnis" über das
Inhaltsverzeichnis und das Wort ,,Literatur" über die
automatisch erzeugte Bibliographie.11
8 Netzcomputerdichtung sollte
computerprozessierte Sprache reflektieren
In der Gesamtmenge digitaler Dichtung ist solche, die auch
ihren Sprachcode algorithmische Prozessierung von Sprache mit
Kommunikation. Noch seltener ist elektronische Literatur, die als
genuine Computernetzdichtung die algorithmische Prozessierung von
Sprache verbindet mit dem Konstitution ihres Texts über das
Internet. Fast alle Computernetzliteratur beschränkt ihr
Experimentieren auf Benutzeroberflächen und fällt damit
weiterhin hinter die ästhetische Konsequenz computergenerierter
Dichtung zurück, die im Umfeld von konkreter Poesie, Oulipo und
Cutup-Literatur schon in den 1950er und 1960er Jahren programmiert
wurde.
Allerdings geben Netzkünstler, die mit den Zeichencodes
von Computerbetriebssystemen und Netzwerkprotokollen spielen, Impulse
zu einer poetischen Sprachkritik und -reflexion des Internets. Seit
einigen Jahren wächst in der konzeptualistischen Netzkunst das
Interesse für sogenannte ,,ASCII-Art", Kunst, deren
visuelles Repertoire sich auf die 128 Zeichen des amerikanischen
Schreibmaschinen- und Computerzeichensatzes beschränkt, ein
Code, den jeder Computer beherrscht, auf dem alle Programmiersprachen
und Internet-Protokolle basieren und der selbst auf einfachsten
Textterminals gelesen werden kann. Beschäftigte sich die
traditionelle ,,ASCII Art" von Computerhackern damit,
gegenständliche Bilder als Typogramme zu codieren, so
ästhetisiert ihre konzeptualistische Variante die
visuell-typographische Kontingenz des Computers. Überbleibsel
von Programmabstürzen, Datenfragmente, Nummerncodes, visuelle
Raster und Befehlssequenzen werden in ihr zusammenmontiert und auf
Foren wie der Mailingliste 7-11 http://www.7-11.org als
Spielelemente kommunikativer Irritation und Disruption
eingesetzt.12
Eine Virtuosin dieses Spiels ist die australische Netzdichterin
mez alias Mary Ann Breeze http://wollongong.starway.net.au/~mezandwalt/free.htm.
Ihre Texte sind in einer Privatsprache namens ,,Mezangelle
Language" geschrieben, die den Slang von Computercrackern mit
Wortverschachtelungen wie in Joyces Finnegans Wake
kombiniert.13 Das bevorzugtes Stilmittel der
Mezangelle sind Ausdrücke in rechteckigen Klammern, die
in Programmiersprachen und in Systemsoftware verwendet werden, um
mehrere Schreibweisen einer Zeichenkette aufzufinden, also z.B.
,,B[ua]ch" für ,,Buch" und ,,Bach", und hier
komplexe Wortassoziationen in einem Wort verdichten. Der Musiker und
Schriftsteller Alan Sondheim, zur Zeit Gastautor des englischen
Netzliteraturproject Trace [tra], entwickelt in seinen Netzschriften einen
Tagebuchstil, der nicht nur Dichtung und Essayistik vermischt,
sondern auch Textmeldungen seines Computerbetriebssystems und
selbstverfaßten Programmcode inkorporiert.14
9 Netzdichter
sollten auch Programmiersprachen beherrschen
In der Kontamination von natürlicher Sprache,
Programmiersprachen und dem Textcode der Netzprotokolle liegt aus
meiner Sicht das größte Potential künftiger
Computernetzdichtung; ein Potential, das zur Zeit weitgehend
brachliegt.
So waren die Avantgarde des Schreibens in Computernetzen
bislang nicht Schriftsteller, sondern Programmierer, die das Internet
und seine Unix-Software geschrieben haben. Besonders in der
Netzkultur von Freier Software und ihren Plattformen BSD und Linux
wird eine kollektive Autorschaft gepflegt, die sich auf komplexe,
selbstgeschaffene Systeme des Schreibens, des Variantenabgleichs, der
Dokumentation, des Informationsaustauschs unter den Entwicklern und
schließlich der Lizensierung stützt. Alle diese Systeme
sind, genau besehen, Texte, die je nach Verwendungszweck in
Programmiersprachen, in Umgangsprache oder als juristischer Code
verfaßt sind. Freie Software ist ein rekursives
Prozessiersystem von Texten, die permanent auf sich selbst appliziert
werden, vielleicht die einzige erfolgreiche radikal kollaborative
Schreibpraxis - also ,,Netzliteratur" - im Internet.
Als Nebenprodukt hat die Freie Software zwei Textspiele
entwickelt, die auch im herkömmlicheren Sinne poetisch sind:
rekursive Akronyme und in Programmiersprachen geschriebene Lyrik. Das
bekannteste rekursive Akronym ist ,,GNU" für ,,GNU's
Not Unix". Wird die Abkürzung aufgelöst, so erweist
sich, daß sie sich selbst enthält und mit jeder neuen
Auflösung neu einschreibt. So führen rekursive Akronyme die
Sprache in eine unendliche Schleife; sie wird zu einem Programm, das
sich bei jeder Ausführung selbst modifiziert. Weiter entwickelt
ist diese Prinzip in der Perl Poetry, einer Netzlyrik, die
in Programmiersprache geschrieben ist. Perl Poems sind
jedoch keine gewöhnliche Textmaschinen, denn auch ihr
Programmcode ist als Lyrik lesbar.15 Ein Beispiel:
#!/usr/bin/perl
sleep;
pipe (drip, drip);
listen
(drip, drip);
kill noises;
kill
dripping;
close pipe soon, NOW;
sleep again;
listen (drip, drip);
sleep (not now);
exit (do it);
accept destiny, now;
alarm neighbors;
get the keys now, &;
#open (up, &survey the);
;
crypt of,darkness;
not a single; pipe here,anywhere;
Wird dieses Programm ausgeführt, so versetzt es
sich selbst in einen Tiefschlaf, aus dem es nur noch gewaltsam - zum
Beispiel per ,,kill"-Befehl - herausgerissen werden kann. So
kann ein solches Programmiersprachen-Gedichts auf mindestens drei
verschiedene Weisen gelesen werden:
- als Gedicht in natürlicher Sprache;
- als Sequenz von Maschinenbefehlen;
- sobald es ausgeführt wird und sein Output erscheint, als
zweites Gedicht in natürlicher Sprache.
Im Gegensatz zu Hyperfiction und New Media Poetry
läßt sich diese Dichtung tatsächlich in kein anderes
Medium als den Computer übertragen, ohne allerdings im engeren
Sinne Netzliteratur zu sein. Auch ihr Prinzip ist nicht neu; schon
1968 schrieben Francois Le Lionnais und Noel Arnaud, Mitglieder der
mit Raymond Queneau begründeten Oulipo-Gruppe, Lyrik in der
Programmiersprache Algol.16
Im weltweiten Computernetz gewinnt die maschinelle
Ausführbarkeit von Schrift eine bislang ungekannte Qualität
und Brisanz. Ein absichtlich protokollwidrig codiertes Stück
Text kann Rechner und ganze an sie gekoppelte Infrastrukturen
sabotieren.17 Statt nur oberhalb der obersten
Protokollschicht des World Wide Web zu erscheinen, sollte
Netzliteratur die Vielschichtigkeit ihres Sprach- und Textcodes
reflektieren und auch mit Programmiersprachen, Netzwerkprotokollen
und Betriebssystemen dichten können und nicht nur
Benutzeroberflächen manipulieren, sondern ihren Code
selbst.18
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The New York Times Book Review (1993), August 29, S.
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Gallimard, 1977, S. 315-336
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Programming Perl . Cambridge, Köln, Paris,
Sebastopol, Tokyo : O'Reilly, 1996
Fußnoten
1Eine Definition gibt [Gri98].
2Vgl. [Har57]
3Wie z.B. Christiane Heibach in ihrem
Beitrag zum Sammelband Hyperfiction [Hei99]
4Die Hyperfiction-Anthologie
des Stroemfeld-Verlags stellt hierin übrigens keine Ausnahme,
sondern die Regel dar. Auch z.B. die Beiträge des letzten
IBM/Zeit-Literaturwettbewerbs Pegasus '98 http://www.pegasus98.de wurden
auf CD gepreßt.
5Siehe [Coo92] und
[Coo93]
6vgl. [Lan92], S.15
7was nicht nur der Titel von
Suters/Böhlers Anthologie belegt, sondern auch die Namen
einschlägiger Netzforen wie ht_lit (für
,,hypertext literature")
8Viele Computer-Hypertexte könnten
problemlos auch als enzyklopädisch gegliederte Bücher
gedruckt werden, so zum Beispiel auch Heiko Idensens und Matthias
Krohns Imaginäre Bibliothek [IK], die älteste und meiner Meinung
nach beste deutschsprachige Hypertext-Dichtung.
9Eine ähnliche Kritik formuliert
[Aar97] , S.76-80
10Vgl. [Fou77],
[Gys78] und [Mol63]
11Die Londoner Künstlergruppe
mongrel hat eine Suchmaschine www.mongrel.org.uk ins World Wide
Web gestellt, deren Programmierung so manipuliert ist, daß sie
bei der Suche nach rassistischen Stichwörtern vorgefertigte
Texte zurückgibt, ohne daß der Leser es merkt.
12Auf der Website des wegen seines
selbstgerechten Kommunikationsterrorismus umstrittenenen
Netzkünstlers antiorp findet sich ein ASCII-Film http://m9ndfukc.com/kinematik.
13eine Übersetzung aus dem
Mezangelle ins Englische findet sich unter Translation: A Report
http://wollongong.starway.net.au/~mezandwalt/natore.htm
14Siehe Sondheims Homepage http://lists.village.virginia.edu/~spoons/internet_txt.html.
Von Rainald Goetz Abfall-Tagebuch unterscheiden sich
Sondheims Texte nicht nur in ihrem Sprachcode, sondern auch darin,
daß sie nicht vorgeben, eine Außenwelt jenseits ihres
Mediums zu referenzieren.
15Siehe dazu auch [WCS96], S.552 sowie
Sharon Hopkins' Internet-Aufsatz Camels and Needles: Computer
Poetry Meets the Perl Programming Language.
16s. [MB98], S. 47
und S.54
17Z.B. in sogenannten
syn-flooding-Attacken, in denen absichtlich fragmentierte
Codes des Internet-Protokolls TCP/IP einen anderen Netzrechner
zwingen, bis zum Zusammenbruch der Kommunikation dysfunktionale
Verbindungen aufrechtzuerhalten.
18Daß es zuwenig interessante
Netzdichtung gibt, zeigt sich immer dann, wenn Referate wie dieses
lieber die Möglichkeiten der Computerliteratur beschreiben, als
ihre Realität. Wenn auch die Beispiele von Netzdichtung, die ich
zumindest konzeptuell interessant finde, Sie als Literatur nicht
überzeugt haben, so stimme ich Ihnen gerne zu. Die Qualität
dessen, was ich in den letzten zehn Jahren im Netz lesen konnte,
hält nicht ansatzweise einem Vergleich mit dem stand, was zum
Beispiel der Kleinverlag Droschl in seinem Lyrikprogramm publiziert.
Ich hoffe, mich getäuscht zu hvaen. Solange ich es aber nicht
besser weiß, finde ich es zum Beispiel nicht sinnvoll,
Netzdichtung zum Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Lehre zu
machen.