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Selbstreferentialität
Florian Cramer
4.12.1999
1 Modelle
1.1 Epimenides-Paradox
,,Alle Kreter lügen; ich bin ein Kreter", bzw.:
,,Dieser Satz ist unwahr".
1.2 Burali-Forti-Paradox
Cesare Burali-Forti, 1897
Die Ordinalnummer der Menge aller Ordinalnummern muß eine
Ordinalnummer sein.
1.3 Cantors
Paradox
Georg Cantor, 1899
Die Kardinalzahl der Menge aller Mengen muß die
größte mögliche Kardinalzahl sein. Doch die
Kardinalzahl der Menge aller Untermengen einer Menge ist immer
größer als die Menge selbst.
1.4 Russells
Paradox
Bertrand Russell, 1901, s.a. 2.1
Einige Mengen sind Elemente ihrer selbst, andere nicht. Z.B.:
,,Die Menge aller Mengen mit mehr als fünf Elementen" ist
Teil ihrer selbst, weil sie mehr als fünf Elemente enthält.
,,Die Menge aller Menschen" ist nicht Teil ihrer selbst, weil
die Menge kein Mensch ist.
Paradox: Wie klassifiziert man nach dieser Logik die Menge
aller Mengen. die nicht Mitglieder ihrer selbst sind? (nach
[Qui62], S.29)
(Russells Paradox läßt Frege 1901 an seinem System
zweifeln - die Grundlage des Systems der Logik kollabiert.)
1.5 Grellings
Paradox
Kurt Grelling, 1908
- ,,autologische" Adjektive:
,,kurz" ist kurz, ,,deutsch" ist deutsch, etc.
- ,,heterologische" Adjektive
,,englisch" ist nicht ,,englisch",
,,einsilbig" ist nicht einsilbig etc.
Paradox: Ist das Adjektiv ,,heterologisch" autologisch oder
heterologisch? (nach [Qui62], S.21)
[Variante des Epimenides-Paradoxes]
1.6 Gödels
Unvollständigkeitshypothese
Kurt Gödel, 1931
- Konstruktion von Aussagesätzen in formalen System, die nur
wahr sind, wenn sie unbeweisbar sind
- beweist Unvollständigkeit formaler Systeme: Der Satz
,,Für diese zahlentheoretische Aussage gibt es keinen
Beweis" ist innerhalb der Zahlentheorie unbeweisbar
- Gödels Satz initiiert die Beweistheorie und die Theorie
rekursiver Funktionen (nach Church)
(nach [Hof79], S.19f.. und [Qui62], S.35)
1.7 Quines
Paradox
,,Yields a falsehood when appended to its own quotation".
[Qui62], S.26
2 Begriffsgeschichte
2.1 Whitehead/Russell, Principia
Mathematica, 1910 [WR13]
Bd.I, Kapitel 2 The Vitious Circle Principle, S. 64:
,,In all the above contradictions there is a common characteristic
which we may describe as self-reference or reflexiveness"
Rückbezug auf Paradoxa von Epimenides (s. 1.1), Cantor (s. 1.3) und
Russell (s. 1.4).
2.2 Frederic
B. Fitch, Self-Reference in Philosophy, 1946 [Fit46]
Frühestes nachweisbares Vorkommen des Begriffs
,,self-reference" in der Philosophie.
Unterscheidung von Theorie und Gegenstand
(,,subject-matter") der Theorie in den empirischen
Wissenschaften. Einige Theorien (d.h. - implizit - Meta-Theorien)
haben andere, untergeordnete Theorien zu ihrem Gegenstand. Die
Philosophie formuliert darüber hinaus Theorien über das
allgemeine Wesen von Theorien (,,theories about the general nature of
theories"). Selbstreferentielle Theorien sind Theorien, die sich
selbst in ihrem Gegenstand enthalten:
,,If a theory is included in its own subject-matter, we say that is
is a self-referential theory" ([Fit46], S.222).
Fitch bezieht den Begriff ,,self-reference" auf
Epistemologie und Logik. Er ist ein Phänomen der analytischen
Philosophie (und somit der Formalisierung von Theorie).
Rückbezug auf Whitehead, Carnap. Jede allgemeine Theorie
über Theorien ist selbstreferentiell.
Hier stellt sich das Problem selbstreferentieller
Inkonsistenz. Selbstreferentielle Inkonsistenz nachzuweisen, ist
das Standardverfahren zur Widerlegung einer Theorie, vgl. logisches
Paradox:
- Cantors Paradox, s. 1.3;
- Gödels Unvollständigkeitshypothese, s. 1.6;
- Epimenides-Paradox: ,,Every italicized proposition
appearing in this paragraph is false" ([Fit46], S.229f.), s. 1.1.
2.3 Steven J.
Bartlett, Varieties of Self-Reference, 1987 [Bar87]
Versuch, den Begriff der Selbstreferenz auszudehnen:
,,Historically, studies of self-reference had a comparatively
limited focus as did general theory of reference, restricted to
problems arising in formal systems when self-reference was
permitted, and to problems in linguistic analysis." ([Bar87], S.6)
Beispiele von Selbstreferenz nach Bartlett (Auswahl):
- Index-Zeichen nach Peirce
- Semantische S., Epimenides-Paradox (s.1.1)
- Tautologie
- Mengenlehre, u.a.:
- Cantors Paradox (s. 1.3),
- Russells Paradox (s. 1.4),
- Grellings Paradox (s. 1.5)
- Pragmatische oder performative Selbstreferenz in
Aussagesätzen wie ,,es gibt keine Wahrheit"
- Husserls Phänomenologie als Theorie der Theorien, die
somit auch sich selbst zum Gegenstand hat
- Beweistheorie, s. 1.3,
1.6
- KI-Forschung:
- selbstlernende Systeme [vgl. Minsky, Moravec -FC]
- selbstregulierende Systeme [vgl. Wieners Kybernetik
-FC],
- selbstorganisierende Systeme [vgl. Maturana/Varela
-FC],
- selbstreproduzierende Systeme [vgl. von Neumann
-FC]
- Zeit und Raum: Schleifen, Moebius-Band [vgl. John Barth,
Frametale, in [Bar68] -FC]
- Jurisdiktion: Selbstregulation von Gesetzen
- Literatur: poetische Selbstreflexion [Bibliographie verweist
u.a. auf Analysen des Tristram Shandy, Stanley Fish,
Robert Scholes' Metafiction]
- Informationstheorie: Rückkoppelungsschleifen
2.4 Theorien,
die den Begriff ,,Selbstreferentialität" verwenden
2.4.1 Analytische Philosophie
s. 2.2
2.4.2 Informatik
Rekursionstheorie nach Church/Turing und Kleene
2.4.3 Systemtheorie
Der Terminus ,,Selbstreferentialität" findet sich
nicht bei Bertalanffy (auch nicht bei Prigogine), sondern erst 1975
bei Francisco Varela [Var75] und noch
später bei Niklas Luhmann, der Maturanas und Varelas Begriff der
Autopoiesis, der autonomes Verhalten in biologischen
Systemen beschreibt, soziologisch (und technokratisch) umdeutet, um
mit ihm den Verlust von Handlungsautonomie zu erklären.
Varela redefiniert den ,,vicious circle" logischer
Selbstreferentialität als ,,virtuous circle" systemischer
Autopoiesis: Jeder regressus ad infinitum ist durch den
Beobachterstandpunkt relativierbar [Var81].
S.a. Gebhard Rusch, Autopoiesis, Literatur,
Wissenschaft:
,,Autopoietische Systeme sind operational geschlossen und
selbstreferentiell; d.h.: für die Aufrechterhaltung ihrer
Existenz benötigen sie keinerlei Information, die
nicht in der einen oder anderen Form in ihnen selbst angelegt
wäre". [Rus84],
S.376
2.4.4 Literaturwissenschaft
Früheste nachweisbare Arbeit, die
,,Selbstreferentialität" in literarischen Texten
untersucht: Steven Csaba Scheer, Fiction as the Theme of
Fiction. Aspects of Self-Reference in Hawthorne, Melville, and
Twain, Johns Hopkins University (Dissertation), 1974 [Quelle:
Dissertation Abstracts]
3 Zur Semantik
von ,,Selbstreferentialität"
3.1 Selbstreferenz als
Speziallfall von reference
,,Self-reference" denotiert reference im Sinne
von Freges Bedeutung. ,,Selbstreferenz" kann es demnach
nur in formal-logischen Systemen bzw. künstlichen
Sprachen geben (vgl. Russell, Gödels Hypothese), d.h. in
Sätzen, die logisch wahre oder logisch falsche Aussagen treffen.
,,Self-reference" ist eng verwandt mit dem Begriff der
,,Rekursion" (nach Stephen Cole Kleene u.a.).
Selbstreferenz ist Rekursion in logischen
Sätzen.
(vgl. [WR13] und [Hof79], S.24)
Somit disqualifiziert sich ,,Selbstreferenz" als Terminus
für die Kunst- und Literaturwissenschaft, sofern nicht
tatsächlich logische Rekursionen, z.B. bei Lewis Carroll oder
Henry Flynt untersucht werden.
3.2 Selbstreferenz und
Selbstreflexion
Die Whitehead/Russelsche ,,reflexivity" kontaminieren
Literaturwissenschaftler und Hermeneutiker wie Bartlett (s. 2.3) mit Kants Transzendentalphilosophie bzw. dem
Begriff der Reflexion bei Fichte und den Frühromantikern. Um (a)
analytische und (b) idealistische Begriffstraditionen zu
differenzieren, schlage ich vor, ,,Selbstreferenz" auf (a) und
,,Selbstreflexion" auf (b) zu beziehen und beide Begriffe strikt
zu trennen:
-
Selbstreferenz = Rekursion in logischen
Aussagesätzen
-
Selbstreflexion in der Literatur = Selbstbeschreibung
des Signifikanten, z.B. in
- der Tradition des Komischen (Bachtins Begriff des
Roman-Worts).
- der ,,Transzendentalpoesie" der Frühromantik,
Novalis' Theorie sprachlicher Selbstreflexion:
,,Es ist eigentlich um das Sprechen und Schreiben eine
närrische Sache; das rechte Gespräch ist ein
bloßes Wortspiel. Der lächerliche Irrtum ist nur
zu bewundern, daß die Leute meinen - sie sprächen
um der Dinge willen. Gerade das Eigentümliche der
Sprache, daß sie sich bloß um sich selbst
bekümmert, weiß keiner. [...]
Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte,
daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen
Formeln sei - Sie machen eine Welt für sich aus. Sie
spiele nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre
wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so
ausdrucksvoll - eben darum spiegelt sich in ihnen das
seltsame Verhältnisspiel der Dinge" [Nov96].
- avantgardistischer Dichtung des 20. Jhs., die nicht selten
auf strukturalistische Sprachwissenschaft und ihr Postulat der
arbiträren Signifikant-/Signifikat-Relation rekurriert (so
z.B. die Lyrik des russischen Futurismus, die ,,konkrete
poesie", die Metafiktionen von Barth, Perec und Calvino).
Literatur
- [Bar68]
-
Barth, John: Lost in the Funhouse . New York, London,
Toronto, Sydney, Auckland : Doubleday, 1988 (1968) (Anchor Books)
- [Bar87]
-
Bartlett, Steven J.: Varieties of Self-Reference. In:
Bartlett, Steven J. (Hrsg.) ; Suber, Peter (Hrsg.):
Self-Reference. Reflections on Reflexivity . Dordrecht,
Boston, Lancaster : Martinus Nijhoff Publishers, 1987, S. 6-28
- [Bar92]
-
Bartlett, Steven J. (Hrsg.): Reflexivity. A Source-Book
in Self-Reference . Amsterdam, London, New York, Tokyo :
North-Holland, 1992
- [Fit46]
-
Fitch, Frederic B.: Self-Reference in Philosophy. In:
Reflexivity. A Source-Book in Self-Reference (siehe
[Bar92]), S. 221-230
- [Hof79]
-
Hofstadter, Douglas R.: Gödel, Escher, Bach .
12. Stuttgart : Klett-Cotta, 1989 (1979)
- [Nov96]
-
Novalis: Monolog. In: Gesammelte Werke Bd. 2.
München, Wien : Hanser, 1978 (1796), S. 672f.
- [Qui62]
-
Quine, W.V.: Paradox. In: Reflexivity. A Source-Book in
Self-Reference (siehe [Bar92]), S. 21-35
- [Rus84]
-
Rusch, Gebhard: Autopoiesis, Literatur, Wissenschaft. In:
Schmidt, Siegfried J. (Hrsg.): Der Diskurs des Radikalen
Konstruktivismus . Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 1991
(1983/84), S. 374-400
- [Var75]
-
Varela, Francisco: A Calculus for Self-Reference. In:
International Journal of General Systems 2 (1975), S.
5-24
- [Var81]
-
Varela, Francisco: Der kreative Zirkel. In: Watzlawick, Paul
(Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit . München,
Zürich : Piper, 1994 (1981) (Serie Piper), S. 294-309
- [WR13]
- Whitehead, Alfred N. ; Russell, Bertrand: Principia
Mathematica . Cambridge : Cambridge University Press, 1910,
1912, 1913