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Kombinatorische Weisheitskunst: Quirinus Kuhlmanns
XLI. Libes-kuß
Florian Cramer
10.1.2001
Vielleicht ist es auch eine Pointe, wenn ich heute nicht mehr
wie angekündigt über die Parodie kombinatorische
Weisheitskunst referieren werde, weil diese Parodie selbst die
kombinatorische Form eines Computerprogramms hat und auf Grund
technischer Probleme hier nicht präsentiert werden kann. Ich
spreche also ausschließlich über Quirinus Kuhlmanns
poetische Kombinatorik, die ich als spekulative Sprachkosmologie
lese; als eine Kombinatorik also, die nicht nur nicht nur
universell-semiotische Disposition von Signifikanten jeglicher Art
ist, sondern selbst auch die Signikate permutiert.
Versform
[Folie, XLI. Libes-kuß] Ein ,,merkwürdige[s]
Gebilde" wird Quirinus Kuhlmanns XLI. Libes-kuß
in nennt Walter Mönchs Geschichte des Sonetts genannt, eine
insofern aufmerksame Diagnose, als im Erscheinungsjahr des Buchs 1955
die Rezeption des Lyrikers Kuhlmanns - statt nur des späteren
chiliastischen Propheten - gerade erst eingesetzt hatte.1
Gemessen an der Zahl seiner Nachdrucke ist der XLI.
Libes-kuß von 1671 heute Kuhlmanns bekanntestes Gedicht.
In den 1960er und 1970er Jahren wurde es vor allem im Umfeld von
konkreter Poesie und Oulipo rezipiert, später von
Computerdichtung. Auch wenn seine die Langverse und Wortreihungen
irregulär anmuten, ist das Gedicht regelkonform konstruiert und
reflektiert poetische Konvention auch dort, wo es gegen diese
verstößt: Es ist ein Sonett mit drei umschlingend
gereimten Quartetten und einem Schlußcouplet, eine Hybridform
des romanischen Sonetts in seinen ersten zwei Strophen und des
englischen Sonetts in seinen letzten zwei. Die asyndetisch gereihten
einsilbigen Wörter können permutiert, also in ihrer
Reihenfolge ad libitum vertauscht werden. Im Nachwort berechnet der
Verfassers wird berechnet, daß ein Schreiber bloß
für die Totalpermutation eines Verses ein Jahr bräuchte und
druckt auf über zweieinhalb Druckseiten die ausformulierte Zahl
der Permutation von 50 ab. Beides, Versform und Kommentierung, ist
bekanntermaßen nicht neu im 17. Jahrhundert. Noch aus der
Spätantike ist der permutative Carmen XXV von Optatianus
Porfyrius überliefert, aus dem Mittelalter unter anderem eine
wortwechselnde Marienhymne des Grand Rhétoriqueur Jean
Meschinot, Julius Caesar Scaliger kanonisiert die Form 1561 als
,,Proteusvers".2 Neu am XLI. Libes-kuß
jedoch ist die Überbietung des Proteusverses zum Proteus-Sonett.
Das Gedicht macht sie offen sichtbar als intertextuelle Operation,
wie ein Vergleich mit einem Wortwechselgedicht Philipp Georg
Harsdörffers zeigt, das 1654 im Poetischem Trichter
erscheint [Folie, Harsdörffer, Wechselsatz]:
Auf Angst / Noht / Leid / Haß / Schmach / Spott / Krieg /
Sturm / Furcht / Streit / Müh' / und Fleiß
folgt Lust / Raht / Trost / Gunst / Ruhm / Lob / Sieg / Ruh /
Mut / Nutz / Lohn / und Preiß.3
Die Wortkombinatorik des XLI. Libes-kuß
ist somit nicht nur eine intra-, sondern auch intertextuelle. Von
Harsdörffers Vers werden die asydentischen Reihungen, der
Versfuß, die Konstruktion des Verspaares mit vertikal
korrespondierenden Gegensätzen ins Sonett übernommen, ins
Nachwork die Bezeichnung als ,,Wechselsatz". Im Doppelvers wie
im Sonett ist dieser ,,Wechsel" einerseits ein syntaktischer der
Wortstellungen auf der horizontalen Achse, andererseits ein
semantischer in den vertikal korrespondierenden Gegensatzpaaren. Von
Harsdörffers 22 Wörtern übernimmt Kuhlmann zwanzig und
spart ein Paar aus, beläßt sechs von diesen zwanzig in
ihrer originalen Paarung, permutiert sechs weitere unter sich zu
neuen Paaren und verbindet die restlichen Wörter mit
Wörtern aus dem eigenen Korpus. Dieses Register von
Übereinstimmungen und Differenzen schreibt dem XLI.
Libes-kuß eine zweite Kombinatorik ein, die eine
Kombinatorik der textuellen Appropriation ist. Auch andere
Anordnungen von Wörtern im Sonett sind offenkundig nicht
zufällig. Zum Beispiel bilden die vertikalen Wortpaarungen der
ersten und dritten Strophe Antonymien, in der zweiten Strophe jedoch,
passend zum Topos des Kusses, Metonymien. So wird die zweite Strophe
zur Symmetrieachse, die sich mit anderen Symmetrieachsen inkongruent
überlagert. Immer wieder geschehen ,,Wechsel" im Gedicht.
Zugleich unterläuft sich dieses Prinzip, weil jede Vertauschung
der Wörter ihre Grundanordnung zerstören würde.
Einerseits behauptet das Gedicht, sich erst in seinen Permutierungen
zu entfalten, andererseits suggeriert es, daß die
Ausgangsanordnung die beste ist. (Auch dies ein ,,Wechsel".)
[Folie] Nicht nur der XLI. Libes-kuß, sondern
auch Harsdörffers Wechselsatz gibt sich als Fortschrift
eines Prätexts zu erkennen. In einer Fußnote deklariert er
sie als ,,Nachahmung des versus vertumnalis bey
Lansio",4 d.h. eines 1621 geschriebenen
lateinischen Proteusverses des Württembergischen Politik- und
Rhetorikprofessors Thomas Lansius:
Lex, Rex, Grex, Res, Spes, Jus, Thus, Sal, Sol, (bona)
Lux, Laus.
Mars, Mors, Sors, Fraus, Fex, Stys, Nox, Crux, Pus,
(mala) Vis, Lis.
Lansius' Gedicht fügt drei Gedichtformen, die
sich Scaligers Poetices in unmittelbarer Abfolge definieren,
zu einer. Neben dem Proteusvers sind dies zwei Spezialformen des
versus rapportatus, also des grammatisch parallel konstruierten
Doppelverses; ersten die ,,Correlativi" als syntaktische
Reihungen, zweitens die ,,Concordantes" als discordia concors
verbundener Gegensätze.5 Im vergleich Scaligers
hexametrischem Beispiel-Proteusvers ,,Perfide sperasti divos te
fallere Proteu" ist Lansius Vers' eine metrische und
grammatische Simplikation. Sie aber erlaubt es Harsdörffers und
Kuhlmanns erst, Proteusverse auch in der deutschen Sprache mit ihren
unflexibleren Wortstellungen zu dichten, und sie erlaubt
überhaupt erst die Verbindung von Proteusdichtung und lullischer
Kombinatorik.
Die Permutierbarkeit von Scaligers Proteusvers und allen
anderen Gedicht, die nach seinem Vorbild geschrieben wurden, ist
wegen des Hexameters künstlich eingeschränkt; die Zahl
seiner mathematisch zulässigen Permutationen ist daher stets
höher als die seiner metrisch zulässigen
Permutationen.6 So ist Lansius' Proteusvers der
erste, der an sich mathematische Kombinatorik demonstrieren kann.
Bereits 1630 druckt der Lullist Johann Heinrich Alsted Lansius'
Vers mitsamt seiner Permutationstabelle in seiner Enzyklopädie
nach. [Folie, Alsted] Kuhlmanns eigene Berechnungen stoppen
interessanterweise bei der Permutation von 50, einer Zahl, die sich
mit den jeweils dreizehn permutierbaren Wörtern des XLI.
Libes-kusses nicht recht erklären läßt. [Folie,
Athanasius Kircher] Hier zeigt sich, daß Athanasius Kirchers
Ars magnia sciendi sive combinatoria, die auf einer Seite
die Permutationen aller Ganzzahlen von 1 bis 50 verzeichnet eine
weitere Textquelle des XLI. Libes-kusses ist.7 Schon Kuhlmanns
Gymnasialdichtungen benutzen Kirchers Variante von Lulls
Generaltabelle als Topik und verzeichnen Kirchers graphische Symbole
der lullischen principia an ihren Seitenrändern.
(Kirchers Systematik läßt sich, so meine These, auch in
der Anordnung der Wörter des XLI. Libes-kuß
nachweisen.)
Mit der Restringierung von Flexion, Metrik und Morphologie
rückt Harsdörffers und Kuhlmanns Proteusversen
paradoxerweise ins Zentrum der Sprache nach dem Verständnis der
ihr zeitgenössischen Sprachwissenschaft. Justust Georg
Schottelius' 1643 publizierte ,,Teutsche Sprachkunst"
definiert einsilbige Substantive als ,,Stammwörter", d.h.
als morophologische und semantische Grundeinheiten der deutschen
Sprache. Nach Schottelius bilden Stammwörter die elementare
Zeichenmenge einer Kombinatorik, die sich in der Sprache selbst
vollzieht. Daher zeichnen sie sich dadurch aus, daß
ohne solche Modifikationen ist Schottelius'
Stammwörterlehre selbst eine - zudem christlich-kabbalistisch
geprägte - Lehre der Wortkombinatorik, denn sie definiert
Stammwörter dadurch, daß
,,ihre Anzahl völlig und gnugsam sey: 4. Daß sie von
sich reichlich auswachsen und herleiten lassen / was nötig
ist: 5. Daß sie allerley Bindungen / Doppelungen und artige
Zusammenfügungen leiten."8
Mit der einzigen Ausnahme von ,,Prinz" finden sich
alle einsilbigen Wörter, die im XLI. Libes-kuß
permutiert werden, auch in der Liste der Stammwörter wieder, die
Schottelius in seinem Werk von der Teutschen Haupt-Sprache
lexikalisch verzeichnet. Schottelius' ,,Doppelungen und artige
Zusammenfügungen" bilden sich auch in Harsdörffers und
Kuhlmanns Proteusversen, wenn sie - wie von Harsdörffer notiert
- mit jambischer Betonung gesprochen werden und dadurch wie Komposita
klingen. Daß man mit der ,,Wunderversätzung" ins
,,Centrum aller Sprachen" gelange, behauptet Kuhlmanns
Nachwort.9 Indem beide Gedichte morphologische
Prozesse der Sprache zu poetischen Verfahren machen, sind sie nicht
bloß Dichtungen mit Sprache, sondern Erdichtungen von Sprache,
Poesie als Sprachforschung.10
Quirinus Kuhlmanns Poetik jedoch begnügt sich nicht mit
diesem Anspruch. Seine Parallel- und Kommentarschrift zu den
,,Himmlischen Libes-küssen", der Teutsche
Geschicht-Herold, inszeniert ihren Verfasser als
Universalgelehrten. Ein ,,Skribenten-Register" verzeichnet 900
BÜcher, die Kuhlmann behauptet, gelesen zu haben. Zugleich
werden ihre Autoren, zumindest die Kombinatoriker, überboten:
Auch die Gewißheit dises Wechsels zu zeigen haben sich
bemühet Hieronymus Cardanus / Athanasius Kircherus / Johann
Buteo / Nicolaus Tartalius / Thomas Lansius / Hieremias Drerelius /
Daniel Schwenter / Georg Philip Harßdörffer / Christoph
Clavius / George Henisch / Marin Mersenne / Hegias Olynthius /
Hieronymus Isqvierdo u.v.a. welche aber alle den alten
Fußstapffen nachgetreten / und von weiten gewisen / was si
vor unmüglich hilten / wegen ihrer Grösse in der
Nähe darzustellen."11
Wenn parallel dazu das Nachwort des XLI.
Libes-kuß behauptet, im Gedicht seien
,,wi in einem Klumpen / die Samkörnchen der Schluß- Red-
Sitten- Weiß- Rechen- Erdmessungs- Thon- Stern- Artznei-
Natur- Recht- Schrifft-weißheit verborgen",12
so schreibt dies einerseits die Rhetorik des
lullistischen Enzyklopädismus fort, andererseits aber wird aus
der ,,Ars magna sciendi", der Wissenskunst, eine Weisheitskunst,
Trotz seines so offensichtlichen und berechenbaren Verfahrens
erklärt sich das Gedicht zum Seminalgrund, zu einer verborgenen
Quelle dieser Weisheit. Auch wenn diese Allweisheit nur eine
rhetorisch simulierte wäre, könnte der Leser sie schon
deshalb nicht widerlegen, weil alle Permutationen des Texts von
keinem menschlichen Leser zu bewältigen sind. An seine Stelle
tritt eine Maschine, die in der Vorrede zum ,,Geschicht-Herold"
technisch beschrieben. Mit wiederholtem Seitenhieb auf die Lullisten
des 17. Jahrhunderts heißt es darin:
Wiwol sie mit disem Schatten sich vergnügeten / war ich doch
ni vergnüget / und erfand darüber ein Wechselrad / durch
das mein Reim / der in einem Jahrhunderte ni ausgewechselt / inner
etlichen Tagen völlig ausgewechselt / und sahe mit
höchster Bestürtzung / wi di Wandelung
dreizehenfächtig auf einmal geschahe. Vor war die Wechselung
von dreizehen Wörtern / einem Menschen unversuchbar / nun
nicht mehr.13
Da Kuhlmann ,,Wechselrad" dreizehn Wörter
umstellt, ist es offenkundig eine Maschine zur Permutation von
jeweils einem der zwölf Proteusverse des XLI.
Libes-kuß. Der Prodomus, eine theoretische
Schrift Kuhlmanns von 1674, nennt das ,,Wechselrad" ein ,,rotam,
tredecim circulos continentem", das mit einer Umdrehung dreizehn
Permutationen erzeugen könne. Beide Beschreibungen liefern
hinreichende Information für eine technische Rekonstruktion des
Apparats [Folie]. Obwohl sie die Vermutung John Neubauers und anderer
Philologen zu bestätigen scheint, Kuhlmanns ,,Wechselrad"
sei ,,die bei Lull, Bruno, Harsdörffer und anderen schon
beobachtete rotierende Kreisfigur" scheint,14 unterscheidet
sich das ,,Wechselrad" durch seine Funktionsweise. Denn seinen
Kreissektoren sollen Permutationen, nicht Kombinationen abgelesen
werden. Also sind nur solche Stellungen der Räder gültig,
die auf der vertikalen Achse eine echte - wiederholungsfreie -
Permutation der auf den horizontalen Achsen eingetragenen Elemente
ergeben. Kuhlmann nennt dies eine ,,neuerfundene
Verkürzung"15, weil mit jeder Permutation simultan
dreizehn verschiedene Permutationen auf der Vertikalachse angezeigt
werden.
Seine Behauptung, ein Sonettvers habe damit ,,inner etlichen
Tagen völlig ausgewechselt" werden können, kann jedoch
nicht stimmen, weil durch die dreizehnfache Simultanversetzung sich
die Gesamtzahl der zu ermittelnden Permutationen lediglich von 13!
auf 12! verringert. Die Berechnungen könnten auch mit einem
Uhrwerk mechanisiert werden, wenn das Rad tatsächlich nur
gültige Permutationen angezeigen soll.16 (Mit derThese,
mit dem Ausbau des Wechselrads um weitere konzentrische Kreise
erhöhe sich auch dessen ,,transmutandorum virtus",
unterliegt Kuhlmann einem arithmetischen Trugschluß.17
Schon Kuhlmanns Unfähigkeit, eine höhere Permutation zu
berechnen als jene, die er in Kirchers Tabella vorfindet, legt den
Schluß nahe, daß er kein guter Mathematiker ist.)
Wie der ,,Wechsel menschlicher Sachen" im Gedicht sowohl
einer syntaktischer, als auch ein allegorischer ist, ist auch das
Wechselrad doppelt codiert:
Wi wir zu den wechselversen ein wechselrad ersonnen / um solches
auch werkstellig zu machen: So wollen wir gleichfalls Dir den
ganzen Naturwechsel in seinen Wechselrade ausführen und
entlarvet di wahre Weltweißheit besichtigen.18
Das Motto des Gedichts zitiert eine Passage über
die Unbeständigkeit menschlicher Dinge aus der vierzehnten
Predigt ,,De paperum amore" des Gregor von Nazianz, und zwar in
signifikanter Abwandlung des Originals. Aus ,,verum res nostrae orbis
quidam, volvuntur" wird ,,sed omnia quadam veluti rotâ
circumvolvuntur", aus ,,mutationes ferentes"
,,vicissitudines afferente". Auch hier praktiziert der Text eine
Kombinatorik der Appropriation. Gregors Zitat schreibt er mit
,,rota" nicht nur das Wechselrad ein, sondern auch den Topos des
Glücksrads, den ein Abschnitt von Boethius'
Consolatio analog formuiert. Mit ,,vicissitudo" gelangt
der von Terenz und Erasmus geprägte allegorischen Topos der
,,vicissitudo rerum" in das Zitat. Sowohl Glückrad, als
auch die ,,vicissitudo rerum" sind populäre Motive vor
allem in den bildenden Künsten der Frühneuzeit; das
Glücksrad als Emblem von Aufstieg, Fall und Wiederaufstieg des
Herrschers, die ,,vicissitudo" als zyklische Abfolge von
Glück, Reichtum, Hochmut, Neid, Krieg, Armut, Demut und Friede.
[Ich verkürze diese Darstellung stark.]
Doch ist es überhaupt sinnvoll, den Wechsel der
Wörter im Gedicht getrennt vom Wechsel der bezeichneten Dinge zu
betrachten? Für Schottelius, der die deutsche Sprache historisch
vom Hebräischen und somit auch von der adamitischen Ursprache
ableitet, zeichnen sich Stammwörter dadurch aus, daß sie
,,ihr Ding eigentlich ausdrükken". Expliziter noch
verbindet sich antinominalistisches mit christlich-kabbalistischem
Sprachdenken bei Quirinus Kuhlmann, zumal in der These, daß
,,durch Anleitung unsers Wechselrades selbst di Natur
anagrammatisiert oder buchstabenwechselt".19
Durchaus uneindeutig ist dabei der jeweilige Status von
Dichter, Maschine, Natur. Den Schluß, daß
kombinatorischen Textgeneratoren selbst zur Semiose fähig seien,
legen Kuhlmanns Schriften der frühen 1670er Jahre manchmal nahe,
teilweise manchmal nicht. Vor Swifts Textmaschine in der Grand
Academy of Lagado und Borges' Bibliothek von Babel,
aber ohne deren Ironie projektieren der ,,Geschicht-Herold" und
der ,,Prodomus" eine ,,Ars magna librum scribendi",
,,welche alles begreifet / was alle Menschen begreiffen / und durch
einen gegeneinanderhaltungswechsel alles belehret / was belehret
werden kont",20 indem sie alle gegenwärtigen und
alle zukünftigen Bücher durch Buchstabenkombinatorik
erzeugt. In einem späteren Briefwechsel mit Athanasius Kircher,
der - hochinteressant - neuere Debatten über Sprache und
künstliche Intelligenz antizipiert, verwirft Kuhlmann dessen
Projekt einer ,,cista" genannten poetischen Kalkulationsmaschine
mit dem Argument, er könne zwar jedem kleinen Jungen das
Verseschmieden mit kombinatorischen Mitteln beibringen, nicht aber
wahre Dichtung.21 Daß Kuhlmann hiermit seine
Auffassungen nicht revidiert, verdeutlicht wiederum eine Passage aus
dem ,,Geschicht-Herold", die vielleicht das früheste
deutsche Manifest einer Genieästhetik ist: ,,Di Verskunst aber
wird weder gelernet / weil sie satzungslos; und ist nicht unwissend /
weil si am vollkomnesten. Darum lernet ein Poete alles / von deme di
Menschen handeln. Und was ein Poet weiß / lernen weder di
Menschen noch er selbst."22 [Indem er vom poeta laureatus zum
,,Kühlpropheten" und ,,Kühlmonarchen" wird,
verfolgt Kuhlmann diesen Weg in radikaler Konsequenz.]
Von ,,Weisheit" ist auch im Schlußverse des XLI.
Libes-kuß die Rede, in einer Pointe, die concettistisch
aus nicht aufgelösten Widersprüchen gewonnen wird: ,,Alles
wechselt; alle libet; alles scheint was zu hassen: / Wer nur disem
nach wird-denken / muß die Menschen Weißheit
fassen".23 Weisheit ist darüber hinaus
übergreifender Topos der Himmlischen Libes-küsse,
von denen zwei sich auf das Corpus Hermeticum beziehen, die
sonst aber Nachdichtungen aus ,,vornemlich des Salomonischen
Hohenlides" bestehen.24 Zwart sind im 17. Jahrhundert
Hohelied-Nachdichtungen und (in der Nachfolge Catulls und Johannes
Secundus') Kuß-Dichtungen zwei inflationäre Genres,
die - wie Birgit Biehl-Werner nachweist -, nicht einmal als
Kombination originell sind.25 Doch scheint mir die
Intertextualität von Kuhlmanns Lyrik und des Buchs Salomons
komplexer zu sein, als es Interpreten bislang aufgefallen ist. Neben
Lansius' und Harsdörffers Proteusversen sind die
Sprüche Salomons XX-XXIX ein weiterer wichtiger Sub- und
Paratext des XLI. Libes-kuß. So korrespondiert zum
Beispiel dem Wortpaar ,,klug" - ,,Trug" in der vierten
Strophe des Gedichts der Spruch VIII, 8: ,,Das ist des Klugen
weisheit / das er auff seinen weg merckt / Aber das ist der Narren
torheit / das es eitel trug mit jnen ist" oder zu ,,Witz" -
,,Wein" in der vierten Strophe der Spruch ,,Der Wein macht lose
Leute / und starck Getrencke macht wilde / Wer da zu lust hat / wird
nimer weise". Mit der Luther-Bibel von 1545 als Textgrundlage,
die auch Kuhlmanns Bücherliste verzeichnet, lassen sich
mindestens neunzehn Wortpaare einzelnen Sprüchen zuordnen. Der
XLI. Libes-kuß ist selbst textanalytische Lektüre
von Salomos Spruchweisheit, indem er die Sprüche als versus
rapportati bzw. ,,Concordantes" nach der Definition Scaligers
liest und auf ihre Stammwörter reduziert. Die Sprüche
Salomons sind also nicht bloß Topik, sondern werden als
auskombinierte Menge von Wechselsätzen gelesen, denen ein
generativer Mechanismus zugrundeliegt. Neben seinen vielen anderen
Aspekten ist der XLI. Libes-kuß also das reverse
engineering einer imaginären salomonischen Maschine, die
Rekonstruktion eines verlorenen Quellcodes aus 596 Output-Sequenzen.
Literatur
- [Har53]
-
Harsdörffer, Georg P.: Poetischer Trichter .
Nürnberg : ?, 1648-53
- [Kuh71]
-
Kuhlmann, Quirinus: Himmlische Libes-küsse .
Tübingen : Niemeyer, 1971 (1671)
- [Kuh73]
-
Kuhlmann, Quirinus: Lehrreicher Geschicht-Herold . Jena
: Johann Meyer, 1673
- [Mön55]
-
Mönch, Walter: Das Sonett . Heidelberg, 1955
- [Neu78]
-
Neubauer, John: Symbolismus und symbolische Logik .
München : ?, 1978
- [Sca61]
- Scaliger, Julius C.: Poetices libri septem .
Stuttgart : Frommann, 1964 (1561)
Fußnoten
1[Mön55], S.151f.
2[Sca61], S.73
3[Har53], S.51
4Harsdörffer, a.a.O.
5Scaliger, a.a.O.
6Bei Scaliger 720 statt 240, wenn man
den relativ freien ,,Hexameter" der in Alsteds Enzyklopädie
[Nachweis...] ausgeführten Permutationen des Verses als
Maßstab nimmt. Gemäß der strengen Definition des
Hexameters blieben sogar nur 96 Möglichkeiten, die Wörter
des Gedichts metrisch korrekt umzustellen.
7[Verweis nachtragen]
8Justus Georg Schottelius,
Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache, 1663
(Tübingen 1967), Bd.1, S.36.
[Folie, Denckring] Harsdörffer versucht, selbst die
Stammwörter in noch kleinere Morpheme zu zerlegen und mit einem
selbskonstruierten Mechanismus, dem ,,Fünffachen Denckring der
teutschen Sprache", zu einem universalen Wortbildungssystem zu
synthetisieren. Über Kuhlmann, der schon in seiner Gymnasialzeit
Lobverse auf Schottelius verfaßt hatte, berichtet ein Jenaer
Kommilitone 1672 an Sigmund von Birken: ,,Weil Schottelij opus in 4t.
unvollkommen, wolle Er in foliô eines ediren, und den Grund der
teutschen Sprache, auf eine Lullianische Art, heben". Blake Lee
Spahr, [nachtragen], S. 609f.
9[Kuh71,S.59]
10Harsdörffer betreibt seine
poetische Sprachforschung noch zusammen mit Schottelius in der
Fruchtbringenden Gesellschaft, Kuhlmann widmet den XLI.
Libes-kuß seinem Breslauer Mäzen, der ebenfalls
Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft ist.
11[Kuh73], Abschnitt 19
12[Kuh71,S.59f.]
13[Kuh73,Abschnitt 20]
14[Neu78,S.33]
15Geschicht-Herold, a.a.O.
16Und selbst dann müßte es
fast eine halbe Milliarde (479.001.600) Zustände ermitteln, was
im Sekundentakt 5544 Tage dauern würde.
17Ein tausendfaches Wechselrad ermittelt
zwar 1000 Permutationen gleichzeitig, es bleiben aber manuell zu
ermittelnde 999! Permutationen.
18Geschicht-Herold, Vorgespräche,
21
19Geschicht-Herold,
Vorgespräche, 24
20Geschicht-Herold,
Vorgespräche, 27
21,,Si puer ingenium versificatorium
possideret, ver sificatoriam in paucis tabellis inclusam
interpretarer, methodumque docerem extemporales versûs
fundendi, sed versûs, non poëma". (Epistolae duae,
[nachtrag])
22[Geschicht-Herold, nachtragen]
23[Kuh71,S.54f.]
24[Kuh71,Titelseite]
25vgl. Biehl-Werners Nachwort zu den
Libes=küssen, a.a.O., S.10.