Die "Oskarine" ist Produkt einer Begegnung der Computerprogrammierkünstlerin Ulrike Gabriel mit dem großen Sprachkünstler Oskar Pastior, aus der sich die eigentlich unlösbare Aufgabe ergab, Pastiors Lyrik in ein digitales Kunstwerk zu übersetzen; unlösbar deshalb, weil Pastiors Texte, zumal seine kombinatorische Sestinendichtung, selbst als phantastische Software in einer imaginären Programmiersprache PASTIOR gelesen werden könnte, der programmiererisch nichts mehr hinzuzufügen ist. So wurde Ulrike Gabriels Arbeit zu einer Pastior-Lektüre im Medium des Programmcodes, die mich an den Philologen Hugh Kenner erinnert und seinen Versuch, Beckett-Texte durch Umschriften in die Programmiersprache Pascal zu interpretieren. Die "Oskarine" greift sich aus Pastiors Werk zunächst kombinatorisch veränderbare Texte heraus und verlegt sie generativ in den Computer hinein. Anders als in "Hypertext"-Literatur werden hier aber nicht Fertigtexte abgespeichert und miteinander verknüpft, sondern jeder Text entsteht, nach den den Gedichten eingeschriebenen Spielregeln, berechnet vom Computer, und neu bei jedem Aufruf. Keine der Lesungen aus dem Computer-Lautsprecher ist gleich, so daß die CD die Stimme des Dichters nicht bloß reproduziert, sondern auf immer verschiedene Weise sprechen läßt. Die "Oskarine" kombiniert Sprechstimme, Schrift und Bildschirmgraphik zwar zu einer Simultaneität, meidet aber mediale Redundanz und verweigert sich jeglicher "Multimedia"-Opulenz. Stattdessen versucht die Programmierung, der Dichte von Pastiors Texten eine eigene, konzentrierte, abstrakte Zeichensprache entgegenzusetzen. Während das Programm die berechneten Gedichte sprechen läßt, machen sparsam gesetzte Schriftzeichen den kombinatorischen Sub- bzw. Genotext der Gedichte sichtbar. Sie werden dabei zu minimalistischen Kunstwerken. Je weiter die Textgenerierung schreitet, desto mehr überlagern sich Zeichen auf dem Bildschirm, bis schließlich ihre Lesbarkeit kippt und Zeichenmuster entstehen, die auf den ersten Blick opak wirken, auf den zweiten Blick in feinen Grauabstufungen vielgliedrig verschachtelt sind. So spielen sich in den aus der Struktur der Lesetexte generierten Bildschirmschriften Wahrnehmungschwellen von Ordnung und Chaos, Simplizität und Komplexität durch. Obwohl seiner Poetik eigentlich angemessener als jede immergleiche Tonaufnahme, hat die Extension des lesenden Oskar Pastiors zu einer computergenerativen Dichterstimme für Zuhörer einen durchaus ambivalenten Beigeschmack. Pastiors erste Lesung neben Ulrike Gabriels Computerprogramm in der LiteraturWerkstatt Berlin war wie ein Kampf des Dichters gegen die monoton verseschmiedende Sprechmaschine; ein Kampf allerdings, der Pastior -- auch in der anschließenden Diskussion mit dem Publikum -- zur Hochform auflaufen ließ; Computerhacker, die im Saal saßen und zwar Experten für aktuelle elektronische Kunst, weniger aber für Literatur waren, erkannten in Pastior einen der ihren. Was die Programmierung der "Oskarine" nicht kann und in ihrer eigensinnigen Zeichensprache auch keine Sekunde lang vorspiegelt zu können, ist die poetische Verknappung der Möglichkeiten sowie die Einheit von permutativer Reproduzierbarkeit der Gedichte Pastiors und ihrer Einzigartigkeit, wenn er sie individuell spricht. Gerade diese Ambivalenzen aber macht die "Oskarine" interessant. Die Software bügelt nichts glatt. Sie ist zugleich monströs in ihrer Sprechkombinatorik und subtil in ihrer Sprache der Schriftzeichen. In ihrer Auseinandersetzung mit Pastior zeigt sie Nerven und Brüche, Brüche, die sie aber nicht plakativ aufträgt, sondern in feinen Verschiebungen und Modulationen aufschreibt. Ein Glücksfall ist die "Oskarine" erst recht im Vergleich zu üblichen CD-ROM-Produktionen, die literarische Texte "multimedial" aufbereiten, indem sie Ottos Mops über den Bildschirm hopsen lassen, mit gegenständlichen Visualisierungen, Stimmungsfotos, Videos von lesenden Autoren, Computerspiel-Elementen und anderem digitalen Kitsch. Hier hingegen wird nichts verhübscht, anthropomorphisiert und unterhaltsam gemacht. Sondern eine zeitgenössische Code-Kunst entdeckt eine Wahlverwandtschaft in einem literarischen Code, den sie sich in ihrer Sprache aneignet. Florian Cramer (Literaturwissenschaftler, Freie Universität Berlin)