1923 veröffentlicht der russische Konstruktivist El Lissitzky ein Manifest Topographie der Typographie zur Zukunft der Buchkunst. Sein Schluß lautet:
,,Der gedruckte Bogen, die Unendlichkeit der Bücher, muß überwunden werden. DIE ELEKTRO-BIBLIOTHEK``. [Lis23]
So visionär Lissitzkys ,,Elektro-Bibliothek`` die Datennetze zu antizipieren scheint, sie bleibt Utopie. Zwar wird seit mittlerweile einem halben Jahrzehnt das Internet, vor allem das World Wide Web, als Massenmedium genutzt. Daß der elektronische Hypertext das Ende der Bücher bedeute, wie es 1992 der amerikanische Schriftsteller Robert Coover im New York Times Book Review schrieb [Coo92], hat sich jedoch nicht bewahrheitet. Im Gegenteil, Bücher sind heute Schrittmacher des E-Commerce - des elektronischen Versandhandels - mit seinem Aushängeschild amazon.com http://www.amazon.com. Hier ist das World Wide Web nicht universelle Elektro-Bibliothek, sondern Bibliothekskatalog. Viel weniger erfolgreich als die auf Druckwerke verweisenden Kataloge ist elektronische Dichtung im Internet, zumal solche, die sich experimentell um netzspezifische Textformen bemüht. Das Publikumsinteresse an solchen Texten ist abgekühlt, ehemalige Großprojekte wie der Internet-Literaturpreis der ZEIT und die Softmoderne-Symposien wurden stillschweigend eingestellt oder in stark verkleinertem Rahmen fortgeführt. Parallel zeigen Netzanthologien wie Thomas Hettches Null (siehe 2.2.1) oder die lyrikline http://www.lyrikline.org der Literaturwerkstatt Berlin einen Trend der Professionalisierung an, unter dessen Vorzeichen zunehmend konventionell vom Papier aufs Netz übertragene Textformen und Editionsmethoden mit ,,Netzliteratur`` identifiziert werden, ,,Dichtung im Netz`` also zur Buch und Dichterlesung flankierenden Präsentation wird. Dieser Trend wird nicht zuletzt dadurch befördert, daß Internet-Literatur, die mit ihrem Medium experimentiert, sich zwar einen vitalen, über E-Mail, Nachrichtenforen, Websites und Symposien vernetzten Diskurs geschaffen hat, als Netzdichtung deklarierte Einzelwerke jedoch zuverlässig dagegen abfallen und, mit raren Ausnahmen, uninteressant sind für ein Publikum außerhalb dieses Diskurses.2
Wieso also über Literatur im Internet schreiben? Selbst dort, wo das Internet nur als Bücherkatalog und Distributionsmedium genutzt wird, verändern sich Rezeption, Vermittlung und somit die Produktionsbedingungen von Literatur. Zu untersuchen bleibt, ob das Internet für Literatur mehr sein kann, als nur Katalog und Vertriebskanal. Die Fragen lauten somit:
Indem das Internet Telegraph und Textspeicher zugleich ist und Algorithmen ausführt, vereint es die Funktionen von Buch, Bibliothek, Salon und poetischer Maschine. ,,Literatur im Internet`` kann deshalb das Internet insgesamt meinen, als Gebilde aus Buchstaben- und Zahlencodes in Raum und Zeit, als WELTROMAN IN ECHTZEIT. Das Internet ist das erste neue Medium des zwanzigsten Jahrhunderts, das auf Schrift basiert. Seine vermeintliche Multimedialität beruht auf alphanumerischen Codes und schriftlichen Befehlssequenzen. Das heißt: Auch ein Bild oder ein Ton wird im Computer als Textcode gespeichert und übertragen, und nur herkömmlicher Text ist im Internet wirklich recherchierbar. So leicht es ist, mit einer Suchmaschine das Wort ,,Hand`` im gesamten World Wide Web oder in einer Datenbank aufzuspüren, so unmöglich ist es - ohne künstliche Intelligenz - hingegen, digitalisierte Fotos nach abgebildeten Händen zu durchsuchen.
Liest man das ganze Internet als Literatur, das heißt als Buchstabenwesen, so richtet sich die Frage seiner Poetizität, nach Dichtung im Netz, zuerst an den Leser. Ihm obliegt es, den Textfluß zu verdichten. Die Montage vorgefundenen Sprachmaterials - etwa nach dem Muster futuristischer und dadaistischer Lyrik, von Joyce und Döblin - erfordert technisch nur noch ein ,,Cut'n'paste``, ein paar Mausklicks zwischen Web-Browser und Textverarbeitungsprogramm, und sie kann sogar durch Algorithmen automatisiert werden.
Der umgekehrte Weg, herkömmliche Dichtung ins Internet zu stellen oder als Dichtung deklarierte Texte im Netz zu lesen, ist problematischer. Unhandlichkeit des Computers, grobauflösende Bildschirmdarstellung, Gerätelärm, stockende Netzverbindungen, Programmabstürze und Telefonkosten schaffen eine feindliche Umgebung fürs konzentrierte Lesen schwieriger Texte. Rechnet man Zugangsgebühren und die Anschaffungskosten der Hardware hinzu, so kostet Netzliteratur einen durchschnittlichen Leser wahrscheinlich mehr Geld als eine gute Taschenbuch-Bibliothek. Daß Inhalte im Netz kostenlos seien, nur weil die Computer- und Telekommunikationsindustrie und nicht die Urheber daran verdienen, ist ein verbreiteter Irrglauben.
Texte im Internet, zumal Dichtungen, müssen gegenüber dem Buchdruck also einen Mehrwert bieten, um diese Handicaps auszugleichen. Ohne einen solchen Mehrwert gäbe es keinen einleuchtenden Grund, einen Text im Internet statt auf Papier zu veröffentlichen.
Wann also lohnt die Online-Publikation? Vier Gründe liegen auf der Hand:
Dies betrifft das Internet als Distributionskanal von Literatur.
Dies betrifft das Internet als Schreibplattform.
Dies betrifft das Internet als literarische Datenbank.
Nur hier entsteht, optional in Verbindung mit den ersten drei Funktionen, genuine Computerliteratur.
Distributionskanal, Schreibplattform und Datenbank zu sein, sind die zur Zeit wichtigsten Funktionen des Internet im zeitgenössischen Literaturbetrieb. Oft werden Texte als ,,Netzliteratur`` deklariert, die nur diese drei Funktionen nutzen oder bloß eine von ihnen.
Die Mehrzahl der Texte, die sich im Internet als literarisch ausweisen, nutzen das Netz als schnellen und preiswerten Distributionskanal. Das bekannteste Beispiel ist Rainald Goetz' Tagebuch Abfall für alle, das 1998 kontinuierlich im World Wide Web erschien und durch die Geschwindigkeit seiner Aktualisierung den Schreibakt als Performance inszenierte. Politische Aktivisten publizieren Texte im World Wide Web, deren Druckfassungen zensiert oder gerichtlich gestoppt wurden, in Deutschland z.B. die linksextreme Zeitschrift radikal. Die elektronische Publikation könnte aber auch zur Regel in Schwellenländern mit guter Netzinfrastruktur werden, zum Beispiel in Osteuropa, Asien und Südamerika.
Das Internet wird so zum Selbstverlag, je nach Sichtweise zur weltgrößten ,,vanity press`` oder zum Samizdat-Verteiler. In seinen Literarischen Spaziergängen im Internet weist Reinhard Kaiser darauf hin, daß allein das öffentliche Forum rec.arts.poetry mit tausenden Gedichten pro Monat die herausragende Bedeutung des Netzes als Salon und Schreibstätte belegt [Kai96]. Neben Selbstdarstellung hat der elektronische Selbstverlag zwei weitere Funktionen:
So viele Gründe es gibt, einen Text in den elektronischen Selbstverlag zu geben, als Distributionsmedium für herkömmliche Literatur ist das Internet nur ein Notbehelf. Ein so publizierter Text verliert nicht, sondern gewinnt Lesbarkeit, wenn er nach Empfang ausgedruckt und auf Papier gelesen wird, wie es mit den meisten Textdateien nach wie vor geschieht. Da viele Klassiker der Weltliteratur ursprünglich in Selbst- oder Kleinstverlagen erschienen sind, könnte es einmal Netzpremieren vom Rang eines Ulysses oder einer Lolita geben, doch wäre das Netz für solche Literatur nur Zwischenstation und Durchlauferhitzer.
Datennetze können auch zur kommerziellen Distribution von Literatur verwendet werden. Das Stichwort hierfür heißt ,,publishing on demand``. Ein ,,publishing on demand``-Verlag liefert keine Auflagen mehr in Buchhandel aus, sondern druckt jedes Buch lediglich einzeln auf Bestellung mit einem speziellen Laserdrucker. Die Technik dafür existiert schon seit Jahren, wird aber jetzt erst (z.B. von libri http://www.bod.de) systematisch vermarktet. Rentabel ist dieses Verfahren bei Kleinauflagen. Es entlastet die Verlage von der Lagerhaltung und erlaubt, auch vergriffene Bücher unbegrenzt im Sortiment zu halten. Mittelfristig könnten sich die Laserdruckmaschinen von den Verlagen in die Buchhandlungen verlagern, langfristig sogar in die Haushalte der Leser.
Es spricht viel dafür, daß ,,publishing on demand`` zur Regel wird für Lyrikbände und Dissertationen. Der Leser bemerkt bei dieser Form der elektronischen Publikation keinen Unterschied zum herkömmlichen Buch; ,,publishing on demand``-Bücher werden wie bisher über den Buchhandel bestellt und sehen aus wie gewöhnliche Taschenbücher.
Auch wenn das Internet sich Lesern zunächst als vanity press darstellt und deshalb außerhalb des etablierten Literaturbetriebs zu stehen scheint, verändert es die Arbeitsweisen hinter den Kulissen. Autoren, Übersetzer und Lektoren können über E-Mail Textkorrekturen austauschen, ohne daß Manuskripte wiederholt abgeschrieben werden müssen. (So bestürzend banal dieser Hinweis im Jahr 1999 auch klingen mag, im deutschen Literaturbetrieb muß das analphabetische Faxgerät seine Dominanz über literatere Technologien noch einbüßen.)
Software-Programmierer und Autoren technischer Handbücher bedienen sich bereits differenzierterer Techniken wie dem Concurrent Versioning System (CVS), einer frei erhältlichen Internet-Software, die einen asynchronen Versions- und Variantenabgleich von kollektiv geschriebenem Programmcode, aber auch von Textmanuskripten erlaubt [Ced99]. Darüberhinaus memoriert es alle Revisionen eines Dokuments und kann jede Bearbeitungsstufe wiederherstellen. Solch ein System bietet praktische Vorzüge für die Verlags- und Redaktionsarbeit, ermöglicht aber auch kollektive Schreibexperimente im Stil der surrealistischen cadavres exquises.
Ein aktuelles Beispiel eines solchen Schreibexperiments im deutschsprachigen Raum ist die ,,Online-Anthologie`` Null http://www.dumontverlag.de/null/, die Thomas Hettche für den DuMont-Verlag betreut. Jüngere deutsche Autoren, unter ihnen Helmut Krausser, Steffen Kopetzky, Thomas Meinecke, Alban Nicolai Herbst und John von Dueffel, schreiben auf Null tagebuchartige Notizen, die auf der Startseite des Projekts zu einem Sternhimmel ikonifiziert sind. Texte, die auf andere Texte antworten, erzeugen Sternbilder, ohne allerdings dabei die bildtextliche Komplexität barock-kombinatorischer Coelum-Gedichte, von Mallarmés Coup de dés oder den sprichwörtlichen Konstellationen der konkreten Poesie im Sinn zu haben. Die Prosaminiaturen, die hier entstehen, sind auf Internet und Computer als Lesemedien nicht angewiesen, ihre Endfassungen werden folgerichtig in einer gedruckten Anthologie erscheinen. Ähnlich wie bei Rainald Goetz' Abfall ist der ,,Mehrwert`` gegenüber papierner Publizistik, der den Netzauftritt von Null begründet, das Prozessuale, das Ausstellen der Schreibperformance.
Als ,,Online Writing Community`` bezeichnet sich das Projekt Trace http://trace.ntu.ac.uk. Es ist an einer englischen Universität angesiedelt, vergibt Stipendien an Online-Autoren und veranstaltet Literaturwettbewerbe, zuletzt in Zusammenarbeit mit Robert Coover [tra]. So verkörpert Trace eine angloamerikanische Tradition der Hypertext-Dichtung oder ,,Hyperfiction``, die in 3.1.4 genauer skizziert werden soll.
Die eingangs gestellte Frage, welche Auswirkungen Computer und Internet auf die Literatur und den Literaturbetrieb haben, ist noch nicht ganz beantwortet. Vom Internet als Distributions- und Schreibmedium war bereits die Rede, als Literaturdatenbank gewinnt das Internet jedoch nicht minder Bedeutung. Hiervon profitieren zunächst Kritiker und Philologen. Bibliothekskataloge, die vom Zettelkasten in die Computernetze gewandert sind, vereinfachen zwar Titel- und Stichwortsuchen, vergegenwärtigen ihren Benutzern aber penetrant, wieviel befriedigender es wäre, wenn nicht nur die Titel der Bücher im Computer abgerufen werden könnten, sondern - wie von El Lissitzky imaginiert - auch ihr vollständiger Inhalt. Nach internationalem Urheberrecht kann jedes Buch frei kopiert und öffentlich in Datennetzen gestellt werden, dessen Autor vor mehr als siebzig Jahren gestorben ist. Sinnvoll wäre solch eine Volltextarchivierung aber auch für neu erscheinende Bücher, die primär Sachwissen vermitteln und keinen wirtschaftlichen Gewinn abwerfen wie zum Beispiel akademische Arbeiten. Im Zeitalter sinkender Universitäts- und Bibliotheksbudgets könnte die Kostenexplosion akademischer Literatur bald erzwingen, daß die gesamte Wissenschaftspublizistik vom Buch auf Datennetze umgestellt wird und akademische Titel nur noch dann im Druck erscheinen, wenn sie über ihr Fachpublikum hinaus Leser ansprechen. Wandern traditionelle Publikationszweige ins Internet, so wird dies sehr bald ein radikales Neudenken von Urheberrecht und intellektuellem Eigentum nötig machen, das zumindest für Fachliteratur das Ende des heutigen, an den Erfordernissen des Buchdrucks ausgerichteten Urheberrechts bedeuten könnte. Modellhaft für eine radikale Neudefinition von Urheberrecht und intellektuellem Eigentum steht das Copyleft Freier Software wie GNU/Linux [Fre]. Es reflektiert die Erfahrungen einer Netzkultur, die der von Schriftstellern und Medienkünstlern zwei Jahrzehnte Erfahrung voraushat und deren Protagonisten - Unix-Hacker - die eigentliche Avantgarde des Schreibens in Computernetzen bilden.4
Von der Rechtsproblematik abgesehen wäre die Digitalisierung der Bibliotheken eine kulturelle Jahrhundertaufgabe. Würden ganze Schriftgattungen auf elektronisches Publizieren umgestellt, so müßte sich grundlegend auch die Form ändern, in der Texte am Computer erfaßt werden. Textverarbeitungsprogramme wie Microsoft Word und Word Perfect imitieren die Funktion elektrischer Schreibmaschinen und erzeugen optisch strukturierte Dokumente zum Ausdrucken, statt Auskunft über die interne logische Strukturierung einer Datei zu geben, also z.B. Zitate als Zitate und Kapitelüberschriften als Kapitelüberschriften mit allgemeingültigen Codes kenntlich zu machen. Logisch strukturierte Textformate auf der Basis der Codierungsstandards SGML und XML sind heute schon Norm für die Erfassung kritischer elektronischer Werkausgaben und technischer Dokumentationen.
Welche Auswirkungen hätte dies auf belletristische Gegenwartsliteratur? Wohl geringe; daß Textverarbeitungsprogramme der freien Typographie Vorrang gegenüber der Datenbank-Tauglichkeit von Texten einräumen, kommt gerade den Bedürfnissen von Lyrikern entgegen. Allerdings weist der russisch-amerikanische Medientheoretiker Lev Manovich in einem Aufsatz Database as Symbolic Form darauf hin, daß Datenbank- Strukturen charakteristisch für postmoderne Kunstwerke seien, zum Beispiel für die Filme von Peter Greenaway [Man98]; und, so ließe sich ergänzen, für serielle Musik und Romane wie Georges Perecs Das Leben - Gebrauchsanweisung oder Italo Calvinos Unsichtbare Städte. Daß sich ein Datenbank-artiger Erzähltext ins elektronische Medium übertragen läßt, demonstriert überzeugend der ELEX, eine intermediale CD-ROM-Fassung des Lexikonromans des österreichischen Schriftstellers Andreas Okopenko [Lib98]. Dieser 1970 erstmals erschienene Lexikonroman einer sentimentalen Reise zum Exporteurstreffen in Druden, so der vollständige Titel, erzählt keine Geschichte von Anfang bis Ende, sondern gliedert sich alphabetisch in kurze Kapitel mit Überschriften wie ,,bunte Stühle``, ,,Hundstage`` und ,,Ultraviolett``, die sich durch zahlreiche Querverweise miteinander verknüpfen.5 Im ELEX mutiert Okopenkos Roman zu einem elektronischen Nachschlagewerk, das neben dem alphabetischen auch einen topographischen Zugriff auf den Text erlaubt und von einer computergenerierten Lexikon-Sonate des Komponisten Karlheinz Essl komplementiert wird.
Leider kann ELEX nicht im Internet gelesen werden und ist nur auf Macintosh-Computern lauffähig. Wer im Netz interessante elektronische Dichtung sucht, stellt fest, daß dies keine Ausnahme ist, sondern oft die Regel.
Eine Avantgarde der Internetdichtung, die Algorithmik und Vernetzung als poetische Techniken verwendet und im kombinatorischen Salon futuristisch befreite Wörter in die Elektro-Bibliothek schreibt, scheint nicht in Sicht. Während es seit Mitte der 90er Jahre eine spielerisch-selbstreflexive Netzkunst gibt, die u.a. auf der Documenta X und in der Ausstellung net.condition des ZKM Karlsruhe ausgestellt, kanonisiert und seit kurzem auch historisiert wurde, scheint keine Internet-Dichtung in Sicht, die mit elektronischen Textcodes so souverän zu spielen vermag wie z.B. die Netzkünstler jodi http://www.jodi.org und I/O/D http://www.backspace.org/iod/ mit den Codes visueller Benutzeroberflächen. Interessantere Digitallyriker aus dem Umkreis der new media poetry wie Jim Rosenberg http://www.well.com/user/jer/index.html und John Cayley http://www.demon.co.uk/eastfield/in/ arbeiten selten im Netz, sondern gestalten ihre Arbeiten oft als proprietäre Software, die nur offline auf speziellen Rechnertypen funktioniert.6
Sofern meine Sprachkenntnisse mein Urteil legitimieren, kommen die prägnantesten Konzepte elektronischer Dichtung aus Amerika sowie dem französischen Sprachraum und beziehen sich jeweils auf sprach- und regionaltypische Dichtungstraditionen. Angloamerikanische Netzdichter stellen sich in die Tradition der intermedialen Lyrik von Fluxus, konkreter Poesie und language poetry, frankophone Autoren knüpfen an die kombinatorischen Dichtungsspiele der Oulipo-Gruppe an. Diese Traditionen möchte ich kurz skizzieren und Schulen der Netzdichtung im deutschen, französischen und angloamerikanischen Sprachraum vorstellen.
Die Geschichte algorithmischer Dichtung geht, in der westlichen Tradition, zurück auf den athenischen Rhetor Hegias Olynthios, der einer historischen Überlieferung zufolge einen Satz durch Vertauschung - Permutation - seiner Wörter variieren und vervielfachen konnte.7 Diese Form wird von dem Renaissance-Poetiker Julius Caesar Scaliger als ,,Proteusvers`` kanonisert [Sca61] und erlangt Popularität vor allem in der deutschen Barocklyrik, wo sie mit kabbalistisch-kombinatorischer Spekulation aufgeladen wird. Verbindung von Mathematik, Dichtung und Gesellschaftsspiel erscheinen die Mathematischen und philosophischen Erquickstunden [Har36] und Frauenzimmer-Gesprächspiele [Har57] des Nürnberger Dichters Georg Philipp Harsdörffer als frühe Prototypen einer algorithmischen Netzdichtung.
Eine Renaissance erfahren sprachkombinatorischer Verfahren in der Moderne. Mallarmé konzipiert sein posthumes Livre als Proteus-Buch, dessen zehn Bände in 3628800 verschiedenen Reihenfolgen gelesen werden können, Dadaisten und Surrealisten erfinden automatische Sprachspiele. Um eine Systematisierung kombinatorischer Dichtungsverfahren bemüht sich ab 1961 die von Raymond Queneau und dem Mathematiker Le Lionnais begründete Oulipo-Gruppe, der sich später auch Marcel Duchamp, Georges Perec, Italo Calvino und Oskar Pastior anschließen.8 Den Anstoß zur Gründung geben Queneaus Hunderttausend Milliarden Gedichte, ein Zyklus von zehn Sonetten, deren Verse auf Papierlamellen gedruckt und untereinander vertauscht werden können [Que61]. Die Buchausgabe zitiert neben Alan Turing auch einen Proteusvers Harsdörffers. 1977 gründet der Oulipo eine Untersektion für Computerliteratur, die unter anderem Queneaus Sonette als Computerprogramm umsetzt und im Centre Pompidou ausstellt [Fou77].9
Auch heute noch existiert die Oulipo-Gruppe; sie wird im Sommer 2000 im Literaturhaus Berlin tagen. In ihrem weiteren Umfeld existieren öffentliche Diskussionforen und World Wide Web-Seiten, auf denen oulipotische Sprachspiele betrieben werden, sowie die Zeitschrift Formules, die die Geschichte von Oulipo und kombinatorischer Dichtung untersucht.
Die ersten deutschsprachigen Computergedichte werden im Kontext der konkreten Poesie geschrieben. Die Stuttgarter Gruppe um Max Bense programmiert in den späten 1950er Jahren Gedichte auf einem Zuse-Rechner [Döh98] Der Kybernetiker Abraham A. Moles veröffentlicht 1962 in Stuttgart ein ,,erstes manifest der permutationellen kunst``, das die deutsche konkrete Poesie mit der französischen Oulipo-Dichtung zusammenführt [Mol63]. 1972 veröffentlichen Eugen Gomringer und der bildende Künstler Günther Uecker ein Buch mit einem am Computer berechneten Proteusgedicht.
Die heutige deutschsprachiger Netzliteratur bezieht sich selten auf diese Tradition. Viele Computerautoren, wie z.B. die Gewinner der ersten ZEIT-Literaturwettbewerbe, orientieren sich formal an amerikanischer Hyperfiction. Etablierte Schriftsteller wie Thomas Hettche oder Michael Rutschky schreiben im Internet konventionelle Lesetexte. Das meiner Meinung nach lesenswerteste deutsche Online-Literaturprojekt ist auch das älteste: Schon in den späten 80er Jahren legten Heiko Idensen und Matthias Krohn das Fundament ihrer Imaginären Bibliothek http://www.uni-hildesheim.de/ami/pool/home.html. Geschult an Jorge Luis Borges und der Postmoderne, beschreibt die Imaginäre Bibliothek die Geschichte antilinearer Textformen in Form eines ebenfalls antilinearen Zettel- und Verweiskastens von Zitaten, Manifesten und poetologischen Reflexionen [IK]. Errichtet wurde sie mit Hilfe eines Hypertext-Autorensystems von Eastgate Systems, das speziell für die Erfordernisse von ,,Hyperfiction`` entwickelt wurde und innerhalb dessen Möglichkeiten und Grenzen ein Großteil der anglo-amerikanischen Computerdichtung entsteht.
Mit seiner Emphase des ,,Hypertext`` ist Robert Coovers zu Beginn zitiertes Manifest The End of Books immer noch typisch für die Computer- und Netzdichtung amerikanischer Prägung [Coo92]. Im Zentrum dieses Diskurses steht die Brown University und der Literaturwissenschaftler George Landow, der in nomineller Anlehnung an Jacques Derrida und Roland Barthes den ,,Hypertext`` als dezentriertes, nonlineares Textmodell beschreibt - und damit poststrukturalistische Texttheorien auf sehr fragwürdige Weise zur Produktionstechnik umwidmet [Lan92]. Auf Landow und Coover beruft sich die ,,Hyperfiction``, die das Interface des Computertextfensters mit klickbaren Querverweisen für Erzähllabyrinthe nutzt. Als Klassiker der ,,Hyperfiction`` firmiert der elektronische Roman Afternoon von Michael Joyce, der als kommerzielle Software von Eastgate http://www.eastgate.com vertrieben wird. [Joy90]. Ebenfalls von Eastgate wird auch Jim Rosenberg verlegt, vormals Mitglied einer Gruppe von Lyrikern, die in Amerika unter dem Namen language poets bekannt geworden ist und seit den 60er und 70er Jahren mit intermedialen Gedichtformen experimentiert. Nur wenige von Rosenbergs elektronischen Gedichte können direkt im World Wide Web gelesen werden, weil sie für das Macintosh-Programm HyperCard geschrieben wurden oder, wie das Gros der bekannten ,,Hyperfiction``-Werke, von Eastgate kommerziell vertrieben werden. Auf Rosenbergs Website http://www.well.com/user/jer/index.html finden sich auch theoretische Aufsätze zur Computerliteratur.
Die Muster-,,Hyperfiction`` Afternoon überzeugt mich persönlich nicht genug, als daß ich das Lob ,,already a postmodern classic`` teilen würde, mit dem der elektronische Klappentext wirbt. Noch weniger kann ich in diesem und verwandten Werken einen Beweis dafür erkennen, daß ,,Hypertext`` eine dezentrierte, nicht-lineare Computerliteratur ermögliche.
In seiner lateinischen Ursprungsbedeutung heißt Text ,,das Gewebe``. Die Assoziation von Text mit ,,Textil`` und ,,Textur`` ist daher nicht zufällig, seine Hypertrophierung zu ,,Hypertext`` aus texttheoretischer Sicht ein Pleonasmus. In der Informatik steht ,,Hypertext`` auch weniger für ein Text-, als für ein Datenorganisationsmodell, das u.a. mit hierarchischen und relationalen Datenbanken konkurriert. Daß jeder Text aus Quer- und Selbstverweisen besteht - selbst Epen und bürgerliche Romane des 19. Jahrhunderts als jene historischen Ausnahmefälle einer Literatur, die tatsächlich linear von der ersten bis zur letzten Seite gelesen wird -, ist eine Grunderkenntnis jedes aufmerksamen Lesens. Wie Roman Jakobsons Modell der paradigmatischen Auswahl und der syntagmatischen Anordnung des sprachlichen Zeichens verdeutlicht, kann es weder wirklich ,,lineare``, noch wirklich ,,nichtlineare`` Texte geben. Jeder Leser bezieht, was er punktuell in seiner Lektüre aufnimmt, auf die Erinnerung des bisher Gelesenen zurück, und so ist schon ein Reim, eine Wortstellungsfigur oder eine metrische Wiederholung eine ,,nichtlineare`` Struktur. Sie zu erkennen impliziert, daß jedes Lesen ein Prozeß des permanenten Vergleichens ist, des mentalen Springens und Vor- und Zurückgehens im Text und des Assoziierens mit anderen Texten.
Wenn sich die Qualität eines literarischen Textes danach beurteilen läßt, wie dicht er sein Sprachnetz knüpft und wie komplex die Assoziationen sind, die er ermöglicht, so unterscheidet z.B. Kafkas Proceß von Okopenkos ELEX, daß er die Verstrickungen seines Erzählgewebes lediglich weniger offenkundig exponiert als letzterer. Umgekehrt generiert jede ,,hypertextuelle`` Aufteilung eines Texts in sich ,,lineare`` Erzählblöcke, und auch ein ,,Hypertext`` wird innerhalb einer linearen Zeitspanne und in einer bestimmten Sequenz gelesen. Vergleicht man z.B. Diderots Enzyklopädie oder eine gewöhnliche mit Querverweisen und Randglossen versehene Bibel mit Hyperfiction, so verleiht der Computer dem ,,Hypertext`` lediglich eine andere Benutzeroberfläche; eine Benutzeroberfläche, die im Vergleich zum gebundenen, beliebig blätterbaren Buch die Lektüre nicht befreit, wie es oft behauptet wird, sondern ihre Beweglichkeit durch auktorial vorgegebene Pfade einschränkt.
Vannevar Bush Memex-Konzept, das dem ,,Hypertext`` zugrundeliegt, war nicht für Computer, sondern für mechanische Lesegeräte entworfen worden. Daß auch im heutigen Verständnis ,,Hypertext`` weder Computernetze, noch überhaupt Computer zwingend voraussetzt und ,,Hypertext`` mit ,,Computertext`` erst recht nicht synonym ist, wird in den Essayistik zur Netzdichtung hartnäckig übersehen. ,,Hypertext`` im HTML- oder Storyspace-Format anzuzeigen, fordert den Computer zwar als random access-Speicher, Telekommunikations- und Anzeigegerät, seine Algorithmik liegt jedoch brach.
Netzdichtung, darauf weisen auch Netzdichter hin,10 ist nicht synonym mit Computerdichtung. Sie kann jenseits von Computernetzen entstehen, wie zum Beispiel der Postversandroman von Peter Faecke und Wolf Vostell in den frühen 70er Jahren [FV70], oder wie Jahrhunderte davor Briefromane und Dichtungsspiele poetischer Gesellschaften. Nicht nur sie lassen die Erwartung einer radikal neuen Literatur aus dem Netz verfehlt erscheinen. Daß eine sich egalisierter Massenkommunikation verdankende poésie faite par tous11 zwar interessant ist für ihre Beteiligten, weniger interessant jedoch für Außenstehende, zeigt die Entwicklung der Mail Art, die von den späten 1960er bis zu den späten 1980er Jahren viele Aspekte - und Probleme - digitaler Netzkünste im analogen Medium des internationalen Briefpostnetzes vorwegnahm.12 Ihre Protagonisten waren und sind zumeist nichtprofessionelle Künstler, die miteinander über neodadaistisch inspirierte Collagen, Stempel, Kleinobjekte und -zeitschriften kommunizieren. Die Mail Art begründete sich auf einem demokratisch-humanistischen Ethos, daß wer immer auch wolle an ihr teilnehmen könne. Die Kehrseite dieses Prinzips waren immanente Hierarchien und ein internes Karrieresystem, das vor allem Gruppenzugehörigkeit honoriert und Beiträge daher nicht an ihrer Qualität, sondern an ihrer Quantität und Kontinuität mißt. Dies führte, wie in vielen Vereins- und Subkulturen, zu vorzeitigen Selbsthistorisierungen und -kanonisierungen, die sich ähnlich jetzt auch in den Diskursen von Netzkunst und Netzliteratur ereignen.
Die Konsequenz, mit der sich Computer- und Netzdichtungen auf ihr technisches Medium einlassen, variiert erheblich. Dichtung kann Internet nur als flüchtigen Transmitter verwenden und sich zwischen Buchdeckeln verfestigen, sie kann Browser-, Graphik- und Programmoberflächen nutzen, um andere Gestalt anzunehmen, oder sie kann ihren Text algorithmisch erzeugen und transformieren. Ich finde nur solche Computernetzdichtung wirklich interessant, die Computer nicht nur als telegraphische Transmitter, Speicher und visuelle Aufbereiter von Texten einsetzt, sondern auch ihren Sprachcode nach programmierten Regeln transformiert oder generiert; Turing-vollständige Computertexte, in der Form autonomer Textautomaten (deren Programmierung als rekursive Transitionsnetzwerke in Gödel, Escher, Bach beschrieben wird13) oder von Filtern, die Text beschneiden, vervielfachen und umformen. Die Computer-Permutationslyrik von Bense, Brion Gysin und der Oulipo-Gruppe war in dieser Hinsicht schon in den 50er und 60er Jahren weiter als fast alle heutige so deklarierte Internetdichtung.
Ein interessantes Segment der Netzkunst spielt mit Buchstabencodes und alphanumerischen Textmontagen, die sich als fragmentierter Mix aus Befehlssequenzen, natürlicher Sprache und visuellen Rastern lesen und somit formal an die antik-moderne Tradition der Technopägnien - von ikonisch komponierten Gedichten - anknüpfen. Beispiele dieser ASCII Art finden sich auf http://www.7-11.org und http://m9ndfukc.com/kinematek. Diese Experimente sind ebenso interessant wie unbefriedigend, denn ihr Eindruck bleibt flüchtig, und sie frustrieren das Bedürfnis nach Verdichtung. Vielleicht sind sie gerade deshalb die adäquaten literarischen Formen des Internet und seiner lesefeindlichen Apparaturen. An der ungleichen Entwicklung und Akzeptanz von Netzliteratur einerseits und bildenden Netzkunst andererseits läßt sich ablesen, welche Codes besser auf dem Computerbildschirm funktionieren .
Die Möglichkeiten eines technischen Mediums machen Textformen nicht zwangsläufig populär, die dieses Potential auch ausschöpfen. Daß aus meiner Sicht heute wenig mehr interessante Computerdichtung im Netz zu finden ist, als in den Anfängen des World Wide Web um 1994, mag diese These untermauern. Von der Antike bis zur Gegenwart waren Technopägnien und kombinatorische Lyrik Marginalformen der Dichtung, und das Zeitalter digitaler Vernetzung scheint daran wenig zu ändern. So sehr Computernetze die Aufschreibe- und Distributionssysteme des Literaturbetriebs revolutionieren, wenn Bücher sein zentrales Produkt bleiben, wird Literatur auch auf Computern und im Netz fürs Papier geschrieben werden.
1 Dieser Text wurde am ersten Juli 1999 als Gastvortrag in einem Seminar für ausländische Kulturschaffende im Goethe-Institut Berlin referiert und erschien, in überarbeiteter Form, in der ALG Umschau, hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten e.V., Sonderausgabe 1999, S.11-17.
2 Den deutschen Netzliteratur-Diskurs in allen seinen Facetten beschreibt Heiko Idensen in einem Interview http://www.dichtung-digital.de/Simanowski/6-Aug-99/Interview_Idensen.htm.
3 wie z.B. ffm inc femdom cons für ,,zwei Frauen und ein Mann in einer weiblich dominierten sadomasochistischen, freiwillig eingegangenen Inzestbeziehung``
4 Einführende Texte: das 1975 entstandene und stetig aktualisierte Jargon File http://www.tuxedo.org/~esr/jargon/, Richard M. Stallmans Bemerkungen zu rekursiven Akronymen http://kt.linuxcare.com/interviews/si199705_m.html und Eric S. Raymonds work-in-progress The Art of Unix Programming The Art of Unix Programming http://www.tuxedo.org/~esr/writings/taoup/.
5 Eine ähnliche Form verwendet Milorad Pavi\'cs Roman Das Chasarische Wörterbuch von 1984 [Pav84].
6 Als Ausgangspunkt für Lektüren dieser Texte empfiehlt sich Robert Kendalls Website Word Circuits http://www.wordcircuits.com.
7 Zur Tradition permutativer Dichtung in außereuropäischen Literaturen siehe z.B. [Rüc74], S.168-170
8 Standardwerke von und zu Oulipo sind das von Harry Mathews herausgegebene Oulipo-Compendium [MB98] sowie der Atlas de littérature potentielle [Oul81], dessen Beiträge zum Teil in der deutschen Oulipo-Anthologie Anstiftung zur Poesie [BK93] enthalten sind.
9 Adaptionen der Hunderttausend Milliarden Gedichte im World Wide Web werden heute von Queneaus Erben verboten.
10 besonders konzise Guido Grigat in seinem Einmaleins der Netzliteratur [Gri98].
11 Lautréamonts Forderung bezieht auch Heiko Idensen in seinem lesenwerten Aufsatzmanifest Die Poesie soll von allen gemacht werden [Ide96] auf die Netzliteratur.
12 Wichtige Literatur zur Mail Art: [CS84], [Wel95], [Per93].
Florian Cramer, c/o Freie Universität Berlin,
Institut für Allgemeine und Vergleichende
Literaturwissenschaft, Hüttenweg 9, D-14195 Berlin
paragram@gmx.net