Florian Cramer
Freie Universität Berlin, Institut für
Allgemeine und Vergleichende
Literaturwissenschaft
9/2001
(überarbeitet 2002 und 2003)
ABSTRACT
Diesem Text liegt die Hypothese zugrunde, daß die theoretische Diskussion digitaler Literatur, ebenso wie die Dichtung, auf die sie sich bezieht, ihren Focus verschoben hat von computerprozessierten Zeichen als vermeintlicher Erweiterung und Überschreitung des Textes (manifest in Begriffen wie "Hypertext", "Hyperfiction", "Hyper-/Multimedia") hin zur Textlichkeit von Computerdaten an sich. Einige Phänomene, die dies praktisch belegen:
Die Auseinandersetzung mit der Ästhetik und Politik von Computercodes in der unter dem Label "net.art" bekanntgewordenen konzeptualistischen Netzkunst;
im Gegenzug die Prägung experimenteller Netzdichtung durch net.art-Ästhetik;
die institutionelle und personelle Affinität von net.art zum politischen Aktivismus im Netz;
die enge ästhetische Anlehnung der net.art an die Sprachen und Codes einer älteren, rein technisch ausgerichteten "Hacker"-Kultur
das Zusammenwachsen der drei genannten Kulturen - Netzkunst, Netzaktivismus und Hackerkultur;
Freie Software bzw. Open Source und offene Netzwerkprotokolle als Schlüsselthemen der ästhetischen und politischen Diskurse aller dreier Kulturen;
schließlich der Einfluß von Hacker-, net.art-, Code- und Netzprotokoll-Ästhetik auf zeitgenössisches Schreiben im Internet (z.B. bei mez, Alan Sondheim, Talan Memmott und Ted Warnell).
So fragt sich, wie "Codeworks" - wie sie Alan Sondheim nennt - unter Textbegriffe faßbar sind, die ohne Reflexion von digitalem Code im allgemeinen und digitalem Programmcode im besonderen geprägt wurden. Ist es bloß ein Zufall, daß Codeworks, die Lowlevel-Codes von Computerprogrammen und Netzwerkprotokollen ästhetisch appropriieren, ußerlich konkreter Poesie annähern? In welchem Verhältnis stehen Computerprogramme und Literatur darüber hinaus? Ist Softwarekunst literarisch, weil sie aus Quelltexten entsteht?
0. Code
Da Computer und Internet wie alle digitalen
Technologien mit Nullen und Einsen operieren, basieren sie auf Code.
Nullen und Einsen sind ein Alphabet, das informationsverlustfrei in
andere Alphabete übersetzt und von ihnen ebenso
informationsverlustfrei rückübersetzt werden kann. -- Es
ist unsinnig, die Definition von "Alphabet" im allgemeinen
auf das lateinische Alphabet im besonderen zu begrenzen, da dieselbe
Textinformation arbiträr als Buchstaben, Morse- ode,
Flaggenzeichen oder Sequenzen von Nullen und Einsen codiert werden
kann. Während das Alphabet Computern und Internet technisch
eingeschrieben ist, können z.B. Bilder und Töne erst dann
digital gespeichert und prozessiert werden, wenn sie von analogen
Licht- und Tonsignalen in numerischen Code bersetzt wurden, eine
Übersetzung, die im Gegensatz zur digitalen Speicherung
konventioneller Texte, verlustbehaftet, also irreversibel und
asymmetrisch ist. Töne und Bilder sind per se nicht codiert,
sondern müssen in Codes gerastert werden, um computerberechenbar
zu sein; jeder Text hingegen, der mit einem Setzkasten oder einer
Schreibmaschine geschrieben werden kann, ist bereits codiert.
Literatur ist daher in digitalen Informationsprozessoren eine
privilegierte symbolische Form. Man kann eine Sammlung von
Textdateien nach dem Wort "Vogel" durchsuchen, während
die Suche nach Vögeln in digitalisierten Bilder oder von
Vogelstimmen in digitalisierten Tönen unvergleichlich
aufwendiger und fehleranfälliger ist, da sie entweder künstliche
Intelligenz-Algorithmen oder manueller Indizierung voraussetzt,
beides Methoden, die unsemantischen Text (numerische Werte für
Graphik-Pixel bzw. Tonwellen-Ausschläge) in semantischen
(nämlich Wortbeschreibungen) bersetzen.
Ebenso gilt das Umgekehrte: Digitale Daten und Algorithemn können
auch in nichtdigitalen Medien wie z.B. Büchern gespeichert
werden, solange sie in Zeichen übersetzt werden, die nach der
Logik eines Alphabets codiert sind, wie es z.B. in
Programmierhandbüchern und technische
Standardisierungsdokumenten des Internets geschieht. Für die
verlustfreie Übersetzung von Computercode in Druckbuchstaben mit
anschließender Rückübersetzung der Buchstaben in
Computerdateien gibt es, bis heute, zwei prominente Beispiele:
1
den
Quellcode von Phil Zimmermans Verschlüsselungssoftware "Pretty
Good Privacy" (PGP).
Die PGP-Algorithmen galten unter
U.S.-amerikanischen Recht als Kriegswaffen und unterlagen daher einem
Exportverbot. Zimmerman umging es, indem er den Programm-Quelltext
von PGP in einem Buch veröffentlichte. Da Bücher, anders
als Algorithmen, unter den ersten amerikanischen Verfassungszusatz
der Redefreiheit fallen, konnte der PGP-Code in andere Länder
exportiert und, durch Scannen und Abtippen, in ein
maschinenausführbares Programm rückübersetzt
werden.
2
der Quellcode von DeCSS, einem kleinem Programm, das
die Verschlüsselung von DVD-Filmen knackt.
Da DeCSS laut dem
amerikanischen Digital Millennium Copyright Act (DMCA) und dem
kürzlich novellierten europäischen Urheberrecht illegal
ist, wurden in den USA auch Flugblätter und T-Shirts mit
aufgedrucktem DeCSS-Quellcode verboten.
Die Ansicht, daß
Programmcode "freie Rede" (im Sinne auch von Schrift) sei,
ist unter Informatikern und Programmierern weit verbreitet und bildet
auch die Grundlage von Lawrence Lessigs juristischer Theorie des
Internets. lessig:code Strenggenommen ist es falsch, von "digitalen
Medien" zu reden, da es nur digitale Information gibt, die in
analogen Medien wie Elektrizität, Lichtwellen und Magnetfeldern
übertragen und gespeichert wird. Digitale Information wird
"medial" nur durch analoge Technik; Computerbildschirme,
Lautsprecher, Drucker zum Beispiel sind analoge Ausgabegeräte,
die an Computern durch Digital-Analog-Wandler wie Video- und
Audiokarten gekoppelt
sind.En[.s]*7u/10u'+.7m'En+[fn*text-num]
Tastaturen, Mäuse,
Scanner und Kameras sind, reziprok, Analog-Digital-Wandler.
Ein heute typischer PC nutzt magnetische Scheiben (Disketten und Festplatten), optische Scheiben (CD-ROM und DVD-ROM) und Chipspeicher (RAM, USB-Flash-Speicher) als seine Speicher- und elektrische oder optische Leiter als seine Übertragungsmedien. Theoretisch könnte man aber auch einen Computer mit eingebautem Scanner und Drucker bauen, der Bücher und Druckschriften als Speichermedien verwendet. Alan Turings Maschine zeigt, daß keine Elektronik nötig ist, um einen Computer zu bauen; im Bostoner Computermuseum steht ein einfacher mechanischer Computer, der aus Besenstielen zusammengebaut wurde.
Gegenüberstellungen von "dem Buch" und "dem Computer" sind irreführend, weil sie die Speicher- und Ausgabemedien (Papier versus einer Vielzahl optischer, magnetischer und elektronischer Techniken) mit der Information (alphabetischer Text versus binärer Code) verwechseln. Sie ignorieren auch den Reichtum traditioneller Speicher- und bertragungsmedien der Literatur, die über das Buch hinaus auch mentale Speicherung und mündliche Übertragung, Tonkonserven, Radio und Fernsehen einschließen, um nur einige zu nennen. Eben weil Literatur per ihrer Definition als "Buchstabenkunst" codiert ist, ist sie (anders als z.B. Malerei und Skulptur) nicht an ein bestimmtes Material gebunden und kann ber faktisch jedes Medium verbreitet werden.
Wenn es im strengen Sinne keine digitalen Medien gibt, gibt es
strenggenommen auch keine digitalen Bilder und Töne. Ein
sogenanntes "digitales Bild" ist ein Sequenz von Codes, die
Maschinenbefehle erzeugen, welche wiederum den Elektrizitätsfluß
erzeugen mit dem einer analoger Bildschirm oder Drucker ein Bild
ausgibt.En[.s]*7u/10u'+.7m'En+[fn*text-num]
Normalerweise zerfällt
dieser Code in drei Teile. Der erste - die sogenannte Ton- oder
Bilddatei - enthält die maschinen- und
betriebssystemunabhängigen abstrakten Informationen, der zweite
- die sogenannte Betrachter- oder Abspielsoftware - die Befehle, die
die abstrakte Information in ein betriebssystemspezifisches Format
umwandeln, der dritte - das Betriebssystem - wandelt die
Programmausgabe für das Ausgabegerät, ob Bildschirm oder
Drucker. Diese drei Programmschichten sind jedoch nur Konventionen.
Theoretisch könnte die "digitale Bilddatei" selbst
allen Befehlscode enthalten, um sich auf analogen Endgeräten
auszugeben, einschließlich jenes Codes, der konventionell als
Bootloader und Betriebssystemkern definiert ist.
Natürlich ist es nicht unerheblich, ob z.B. eine Kette von
Nullen und Einsen in eine Bilddarstellung übersetzt wird, weil
dies ihre Semantik und somit Interpretation und Anwendung bestimmt.
Meine vorige Argumentation sollte dies, obgleich formalistisch, nicht
verleugnen, sondern lediglich unterstreichen, daß
1
wenn
von "Multimedia" oder "Intermedia" in Verbindung
mit Computern die Rede ist, es nicht um digitale Systeme als solche
geht, sondern um bersetzungen digitaler Information in analoge
Ausgaben und umgekehrt. Literatur wird "multimedial" also
gerade nicht durch Digitalisierung, sondern durch
Entdigitalisierung.
2
Text und Literatur in diesen
Übersetzungsprozessen privilegierte symbolische Systeme sind,
weil sie (a) schon codiert vorliegen und (b) Computer auf der
Grundlage codierter Instruktion operieren.
Literatur und Computer
treffen sich erstens dort, wo Alphabet und Code, Umgangssprachen und
Programmiersprachen sich überschneiden, zweitens in der
Ansteuerung analoger Technik durch digitalen Code. Während Code
für Leser natürlich nicht existiert ohne die Medien, die
ihn wahrnehmbar machen, erweitert umgekehrt der Computer die Medien
der Literatur nicht. Sie alle - Elektrizität, elektrische Ton-
und Bildübertragung etc. -- hat es auch vor und unabhängig
von Computern und digitaler Informationsverarbeitung gegeben.
Um einen Standpunkt zu revidieren, den ich in einer älteren
Publikation vertreten habe:En[.s]*7u/10u'+.7m'En+[fn*text-num]
"Warum
es zuwenig interessante Computerdichtung gibt. Neun Thesen",
<http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/homepage/writings/net_literature/general/karlsruhe_2000//karlsruher_thesen.pdf>
Das
Konzept der digitalen Dichtung, oder Computernetzdichtung, impliziert
keine spezifischen Medien, nicht einmal spezielle Maschinen. Wenn
Computer aus Besenstielen gebaut und mit Schnürsenkeln oder
Bongotrommeln vernetzt werden können (siehe
<http://eagle.auc.ca/~dreid/>); wenn digitale Daten,
einschließlich ausführbarer Algorithmen, in Büchern
gedruckt und von ihnen zurück in Maschinen eingespeist oder
alternativ von Lesern mental ausgeführt werden können, kann
Computernetzdichtung ebenso gut auch im Medium Buch erscheinen.
Der Terminus digitaler "Multimedialität" oder
"Intermedialität" könnte hilfreicher neudefiniert
werden als die Möglichkeit Information von einem Medium ins
andere verlustfrei hin und her zu übersetzen, so daß die
sicht-, hör- oder fühlbare Repräsentation dieser
Information arbiträr wird. Dies ist nicht möglich, ohne
daß die Information in irgendeiner Art von Alphabet - ob
alphanumerisch, binär, hexadezimal oder in Morsezeichen -
codiert ist.
0. Literatur
0. Synthese: Dinge
zusammensetzen
Betrachtet man die textuelle Codiertheit
digitaler Information, so läuft man natürlich Gefahr, an
digitalem Code gemachte Beobachtungen auf Literatur als solche zu
projizieren. Computer operieren mit einer Sprache, die keine Semantik
kennt und die auch syntaktisch weitaus weniger komplex ist als
menschliche Umgangssprache. Da die Alphabete von Computer- und
Umgangssprachen wechselseitig konvertierbar sind, bleibt "Text"
- definiert als eine zählbare, endliche Menge alphabetischer
Zeichen - eine gültiger Begriff für Sequenzen von
Maschinencode und konventionelle Schrift gleichermaßen. In
Syntax und Semantik jedoch sind beide nicht austauschbar.
Computeralgorithmen sind, als logische Aussagen, eine formale Sprache
und somit nur eine begrenzte Untermenge von Sprache insgesamt.
Es ist jedoch ein populärer Irrtum zu glauben, daß
"Maschinensprachen" nur für Maschinen lesbar seien und
deshalb irrelevant für menschlich geschaffene Kunst und
Literatur und daß auch umgekehrt Literatur und Kunst mit
formalen Sprachen nichts zu tun hätten. Schließlich sind
Computercodes und -programme keine Maschinenkreationen und
Maschinenprozesse, die nur miteinander kommunizieren; sondern sie
sind von Menschen geschaffene
Schriften.En[.s]*7u/10u'+.7m'En+[fn*text-num]
Kein Computer kann
sich selbst reprogrammieren. Selbstprogrammierung ist nur möglich
innerhalb eines Rahmens von Spielregeln, die ein menschlicher
Programmierer vorgegeben hat. Eine Maschine kann sich anders als
erwartet verhalten, weil beim Verfassen ihrer Spielregeln nicht alle
möglichen Situationen bzw. Systemzustände übersehen
wurden, doch kann keine Maschine ihre Spielregeln überschreiben.
Der
Künstler und Programmierer Adrian Ward plädiert für
eine Umkehrung der Annahme, daß die Maschine eine Sprache
beherrsche:
"Wir sollten meiner Meinung nach eher in dem
Sinne denken, daß wir
unsere schöpferische
Subjektivität in automatisierte Systeme
einschreiben, anstatt
naiv zu versuchen, einem Automaten seine ,eigene'
kreative Agenda
zu verschaffen. Viele von uns tun dies tagein und
tagaus. Wir
nennen es ,Programmieren"'.En[.s]*7u/10u'+.7m'En+[fn*text-num]
"I
would rather suggest we should be thinking about embedding our own
creative subjectivity into automated systems, rather than naively
trying to get a robot to have its 'own' creative agenda. A lot of us
do this day in, day out. We call it programming.", zitiert aus
einer E-Mail an die Netzkunst-Mailingliste "Rhizome" vom
7.5.2001
Man könnte dies auch Komposition von Partituren
nennen, und es ist kein Zufall, daß Tonkünstler Computer
viel früher eingesetzt und gründlicher verstanden haben als
Dichter. Die westliche Musik ist das herausragende Beispiel einer
Kunst, die auf einem schriftlich notierten, formalen Instruktionscode
beruht. Ironien im Medium des Code wie "B-A-C-H" bei Johann
Sebastian Bach, die notentypographischen Figuration von Erik Saties
"Sports et divertissements" und die experimentellen
Partituren von John Cage zeigen, daß formaler Steuercode eine
eigene ästhetische Dimension und intellektuelle Komplexität
besitzt, und nicht bloß Mittel zum Zweck eines Kunstwerks ist,
das in einem anderen Medium erscheint. In einigen Werken sind
Musikkomponisten von der klassischen Notenschrift zur natürlichen
Schriftsprache gewechselt, so z.B. auch La Monte Young in seiner
"Composition No.1 1961", die sich einfach in der Anweisung
"Draw a straight line and follow it."
erschöpft.En[.s]*7u/10u'+.7m'En+[fn*text-num]
hundertmark:maciunas Den Fluxus-Performances von George Brecht,
George Maciunas, Nam June Paik und anderen liegen ähnliche
Partituren zugrunde. 1969 schrieb der amerikanische Komponist Alvin
Lucier sein zum Klassiker der neuen Musik gewordenes Stück "I
am sitting in a room" als eine kurze, gesprochene Anweisung, das
Stück aufzuführen, in dem man sie selbst im Raum abspielt,
wieder neu aufnimmt und dadurch akustisch moduliert.
In der Literatur sind formale Instruktionen notwendige, implizite
Voraussetzung aller permutationellen und kombinatorischen
Dichtung,En[.s]*7u/10u'+.7m'En+[fn*text-num]
Einige historische
Beispiele wurden auf meiner Website
<http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/permutations> als
Computerprogramme adaptiert, die online ausgeführt werden
können.
deren Geschichte ihrerseits auf die Tradition der
Buchstabenkombinatorik in der Kabbala und Sprache der Magie
zurückgeht. Selbst in einer realistischen Erzählung gibt es
eine implizite formale Anweisung wie - z.B. in welcher Reihenfolge -
ein Text zu lesen sein, im Gegensatz zum Hypertext, der zwar
alternative Reihenfolgen anbietet, zugleich aber seine Alternativen
dem Leser (der in einem Buch noch frei blättern kann) zwingend
vorschreibt. Und schließlich ist die Grammatik eine implizite,
pervasive formale Instruktion.
Die Gramatik des Computers unterscheidet sich jedoch von der
Grammatik natürlicher Sprache darin, daß, um einen
informatischen Fachausdruck zu benutzen, der Namensraum von
Instruktion und ihrer Ausführung derselbe ist: Wenn, wie Inke
Arns es vorschlägt, man vom Instruktionscode als "Genotext"
und vom Code, den er erzeugt, als "Phänotext" spricht,
dann zeichnet sich computerprozessierte gegenüber gesprochener
Sprache dadurch aus, daß sowohl Geno-, als auch Phänotext
im selben Alphabet von Bits und Bytes codiert sind und im selben
Medium von (heute in der Regel) elektrischen Strömen, während
in gesprochener Sprache der Genotext der Grammatik im Geschriebenen
implizit und nicht explizit steckt. Einem zufälligen Schnipsel
digitalem Code kann nicht abgelesen werden, ob es maschinenausführbar
ist oder nicht, ob es ein Genotext ist oder ein Phänotext. Jeder
digitale Code, sogar ein "Projekt Gutenberg"-Text von, zum
Beispiel, Homers "Odyssee" ist potentiell
maschinenausführbar, je nach dem, ob anderer Code - ein
Compiler, Runtime-Interpreter oder die Logikschaltungen eines
Mikroprozessors -- ihn als Kette von Maschinenbefehlen auszuführen,
zumal Computercode in hohem Maße rekursiv ist und, als
Architektur virtuell implementierter Maschinen, dazu tendiert, in
Schichten um Schichten seiner selbst angehäuft zu werden.
0.
Analyse: Dinge auseinandernehmen
Daß man digitalem Code
nicht ansieht, ob es ein maschinenausführbares Programm ist oder
nicht, ist conditio sine qua non aller E-Mail-Viren, aber auch der
"Codeworks" von Künstlern wie Jodi, antiorp/Netochka
Nezvanova, mez, Ted Warnell, Alan Sondheim, Kenji Siratori - um nur
einige Begründer des Genres zu nennen. Nur sind die Codeworks
fiktional insoweit sie nur ästhetisch vorgeben, viraler
Maschinencode zu sein.
Mit dem Virus "biennale.py" des
Netzkünstlerduos <http://www.0100101110111001.org> als der
Ausnahme eines Code-Kunstwerks, das tatsächlich ein
Computervirus ist.
Codeworks - ein Begriff, der von Alan Sondheim geprägt wurde - sind die herausragenden Beispiele einer digitalen Dichtung, die die interne Textualität des Computers reflektiert. Sie tun dies jedoch nicht, indem sie, um Alan Turing via Raymond Queneau zu zitieren, Computerdichtung für Computer sind,En[.s]*7u/10u'+.7m'En+[fn*text-num] queneau poèmes %P 3 sondern indem sie mit den Verwirrungen und Grenzunschärfen von maschinen- und menschengenerierter Sprache spielen und die kulturellen Implikationen dieser Überschneidungen reflektieren. Die "mezangelle"-Dichtung von mez (Mary-Anne Breeze), die die Syntax von Programmiersprachen, Netzwerkprotokollen und Englisch zu einer hybriden Phantasiesprache verschmilzt, ist ein herausragendes Beispiel solch einer Poetik.
Von älterer Formalcode-Dichtungen wie La Monte Youngs Composition 1961 , Fluxus-Partituren und Anagramm- und Wortpermutationslyrik weichen Codeworks in einer bemerkenswerten Hinsicht ab: Sie konstruieren oder synthetisieren ihre Instruktionen nicht wie im Labor, sondern benutzen benutzen existierenden Code bzw. existierende Grammatiken, um sie zu zerlegen. Ich stimme Friedrich Block und seinen "Eight Digits of Digital Poetry" <http://www.dichtung-digital.de/2001/10/17-Block/index-engl.htm> zu, daß digitale Dichtung im historischen Kontext experimenteller Lyrik betrachtet werden sollte. Eine Poetik der Synthese kennzeichnete kombinatorische Dichtung und künstlerische Instruktions-Partituren, eine Poetik der Analyse, des Auseinandernehmens, kennzeichnete den Dadaismus und seine Nachfolger. Jedoch findet man in den Vor- und Nachkriegs-Avantgarden des 20. Jahrhunderst nur wenig Dichtung, die mit formalen Instruktionen analytisch verfährt (wie z.B. die ALGOL-Computersprachenlyrik der Oulipo-Dichter François le Lionnais and Noël Arnaud in den frühen 1970er Jahren). Oulipo Compendium %P 47 Die Codelyrik des Internets hingegen ensteht unter der historisch neuen -- wenn man so will, postmodernen - Bedingung einer flutenden Abundanz von Maschinencodes.
Die These, daß es keine digitalen Medien, sondern nur in analogen Medien gespeicherten und übertragenen digitalen Code gibt, findet sich in den Codeworks voll bestätigt. Das bevorzugte Medium der meisten genannten Code-Künstler ist, ganz im Gegensatz zu Hypertext und Multimedia, simpler ASCII-Text. Dabei sind komplexe technopoetische Reflexionen und Low Tech-Medien eben kein Widerspruch. Im Gegenteil ist Low Tech Teil des kritischen Selbstverständnisses der Codework-Künstler.
Hypertext- und Multimediadichter, deren Arbeiten historisch kurz
vor dem World Wide Web und dann parallel zu seinem Ausbau entstanden,
betrachteten sich zu Recht als dessen Pioniere. In den 1990er Jahren
loteten sie fortwährend die technischen Grenzen sowohl des
Internets, als auch von Multimedia-Computertechnik aus. Doch indem
digitale Kunst und Literatur zu Technologiestudien neuer
Browser-Funktionen und Multimedia-Plugins wurde, begab sie sich
zugleich in die Sackgasse geschlossener, industriekontrollierter
Codierungen.En[.s]*7u/10u'+.7m'En+[fn*text-num]
wie z.B. die
Datenformate und Softwaretechnologien Shockwave, QuickTime und
Flash
Ob beabsichtigt oder nicht, wurde digitale Kunst deshalb zur
Komplizin der Umformatierung des World Wide Web von einem offenen,
Betriebssystem- und Browser-agnostischen Informationsnetzwerk zu
einer von proprietärer Technik abhängigen Plattform.
Da Codeworks den Leser umlenken von Softwarecode, der vorgibt,
keiner zu sein (wie z.B. 3D-Simulationen), auf Code, der sich auch
als Code präsentiert, haben sie klare Affinität zu
Hacker-Kulturen, und zwar in technischer, ästhetischer und
politischer Hinsicht. Zwar bezeichnet das Wort "Hacker"
weitaus gegensätzlichere Akteure, als es in seiner Einheit
suggeriert,En[.s]*7u/10u'+.7m'En+[fn*text-num]
Boris Gröndahls
Artikel "The Script Kiddies Are Not Alright" beschreibt die
vielen, z.T. sogar antagonistischen Lager und Generationen des
"Hackertums",
<http://www.heise.de/tp/deutsch/html/result.xhtml?url=/tp/deutsch/inhalt/te/9266/1.html>
doch
könnten sie ebenfalls unterschieden werden in solche, die Dinge
konstruktiv zusammenfügen, wie z.B. Freie Software- and
Demo-Programmierer levy hackers und denjenigen, die Dinge zerlegen,
wie z.B. Cracker von Seriennummern und Telekommunikationsnetzen aus
dem Umfeld der Underground-Publikationen YIPL, TAP, Phrack und 2600.
De facto stammen die wichtigsten poetischen Formen der Code-Künstler
aus Hacker-Subkulturen seit den 1970er Jahren, so z.B. auch ASCII
Art, Code-SlangEn[.s]*7u/10u'+.7m'En+[fn*text-num]
wie "7331
wAr3z d00d" für "leet [=elite] wares dood"
und
Dichtung in Programmiersprachen (wie Perl poetry). Manche
Codekünstler (wie z.B. jaromil und Walter van der Cruijsen)
gehören sogar sowohl zur "hacker"-, als auch zur
"Netzkunst"-Kultur.
Seit ihren Anfängen war die unter dem Label "net.art" bekanntgewordenen konzeptualistische Netzkunst Teil einer kritisch politisierten Netzkultur und ist auch heute noch eng verknüpft mit einem netzkulturellen Diskurs, wie ihn die internationale Mailingliste "Nettime" geprägt hat. In ihrer Ästhetik, Poetik und Politik wurzeln die Codeworks eher in der net.art als in der Hypertext-Literatur und ihren historischen Wurzeln an der amerikanischen Brown University.
Welche Verbindungen gibt es noch zwischen Literatur und digitalem
Code, wenn man von den Codework-Poetiken absieht? Diskutiert man die
Poetik des digitalen Codes als literarische Poetik - und nicht
Literatur als digitalen Text --, so erweisen sich beide als eng
miteinander verwandt. Dies bedeutet nicht, wie John Cayley in seinem
Abstract zur Erfurter "p0es1s"-Konferenz
meint,En[.s]*7u/10u'+.7m'En+[fn*text-num]
http://www.p0es1s.net/poetics/symposion2001/a_cayley.html
,
daß man Friedrich Kittlers technozentrische Medientheorie
unterschreibt, die, trotz ihrer Provokation der Geisteswissenschaften
und des philosophischen Idealismus, in jene metaphysische Falle
geraten zu scheint, die Jacques Derrida in "Écriture et
différence" beschreibt: Durch die Ersetzung eines
metaphysischen Zentrums (bei Kittler: der Geist, der aus den
Geisteswissenschaft ausgetrieben wird) durch ein anderes (Technik und
ihre Diskursgeschichte) wird Metaphysik nicht, wie behauptet,
zerstört, sondern nur unter anderem Vorzeichen fortgeschrieben.
Im Untertitel stellt dieser Text eine offene Frage: "Können Textbegriffe, die ohne Berücksichtigung elektronischer Texte entwickelt wurden, auf digitalen Code angewandt werden, und welche Rolle spielt Literatur dabei?" Ich möchte sie nur vorläufig beantworten: Während alle Literatur, die schriftlich codiert ist, die sprach- und textliche Verfaßtheit des Computers und digitaler Dichtung zu verstehen hilft, kann mit Computer und digitaler Dichtung als Denkfiguren die Codiertheit der Literatur und ihrer sprachlichen Kontrollstrukturen gelesen werden, dann besonders, wenn sich in ihnen in sich zwei gegensätzliche Prinzipien der Sprache virulent vermischen, das strukturelle und das performative.