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Der selbstausführende Entwurf: Software und
Softwarekunst
Florian Cramer
24.1.2002
Software und Kunst
Seit den 1990er Jahren haben die Kunstwissenschaften Computer
hauptsächlich als audiovisuelle Speicher-, Übertragungs-
und Anzeigemedien betrachtet,1 Reflexionen der der Schicht von
Software-Steuercodes hingegen wenig Aufmerksamkeit geschenkt.2
Analog wird digitale Kunst zumeist als Ablauf digitalisierter Bildern
und Tönen, fast nie jedoch von Computerprogrammen beschrieben.
,,Interaktive Videoinstallationen" zum Beispiel werden als
,,multimediales" Ineinandergreifen von Betrachter,
Ausstellungraum und Bildprojektion begriffen,3 selten als Systeme
auf der Basis algorithmischer Steuercodes, zumal ihre Software
typischerweise als black box im Hintergrund auf versteckten Computern
läuft. Er recht gilt dies für Kunst, der man
äußerlich nicht ansieht, daß ihr
Herstellungsprozeß Computerprogrammierung überhaupt
einschloß. John Cages Hörspiel ,,Roaratorio" von 1981
zum Beispiel erklingt als eine Tonbandmontage eines Sprechtexts, der
auf Joyces ,,Finnegans Wake" basiert, von Umweltgeräuschen,
die in verschiedenen Städten der Welt aufgenommen wurden, und
von irischer Volksmusik. Wie viele der Kompositionen von John Cage,
ist ,,Roaratorio" auch algorithmische Kunst; sein Text wurde
wurde nach formalen Raster, Mesosticha des Namens ,,James
Joyce", aus dem Roman extrahiert, die Montage der Tonaufnahmen
im Pariser IRCAM-Studio richtete sich nach einer computergenerierten
Zufallspartitur. Die Buch-und-CD-Box von ,,Roaratorio"
dokumentiert die Komposition zwar detailliert und enthält das
Hörstück selbst, einen Nachdruck des Sprechtexts, eine
Aufnahme seiner Lesung durch John Cage, ein sowohl in Ton, als auch
in Schrift wiedergegebenes Interview mit dem Komponisten
einschließlcih einer Liste der Städte, in denen
Umgebungsgeräusche aufgenommen wurden. Die computergenerierte
Partitur aber ist nur in einem einseitigen Auszug faksimiliert, der
Quellcode des Computerprogramms, das diese Partitur erzeugte, fehlt
ganz.4
Die Geschichte der digitalen und computergestützten
Künste handelt von Ignoranz gegenüber Software, von
schwarze Kästen, und von als Künstler-Faktoten angestellten
Programmiereren. Auch in den digitalen Künsten schreibt sich so
klassisch-romantische Kunstideologie fort mitsamt ihrer
Privilegierung der aisthesis gegenüber der poiesis.5
Nicht minder problematisch ist die Selbstbezeichnung digitaler
Künste als ,,(neue) Medienkünste", der disparate
Techniken wie Videobänder und Siliziumchips wahllos
zusammenwirft. Wenn gealterte neue Medien wie Funk, Fernsehen, Video
in Computer integriert werden, bleibt es dennoch ein zweifelhafter
Umkehrschluß, den Computer dadurch insgesamt als ,,Medium"
zu identifizieren. Definiert man als Medium, was zwischen einem
Sender und einem Empfänger steht, somit ein
Übertragungskanal ist, dann sind Computer nicht bloß
Medien, sondern selbst auch Sender und Empfänger, da sie in den
Grenzen ihrer inskribierten formalen Regelwerke Information nicht nur
übertragen, sondern auch schreiben und lesen, analysieren und
filtern. Die Computersoftware zum Beispiel, die Kontostand und
Überziehungskredit eines Girokontos berechnet oder medizinische
Apparate in der Intensivstation eines Krankenhauses steuert, kann
nicht mehr sinnvoll ein ,,Medium" genannt werden, es sei denn,
man deutet den Begriff radikal humanistisch und versteht alle
Maschinenprozesse als mittelbare Kommunikationen menschlicher
Individuen. Auch gibt es, strikt definitiert, keine digitalen Medien,
sondern nur digitale Information. ,,Medial" wird diese
Information erst durch analoge Schnittstellen wie Bildschirme,
Lautsprecher und Drucker, die Nullen und Einsen in analoge
Schallwellen, Videosignale, Druckschwärze wandeln.
Gibt es somit auch eine poiesis digitaler Codes vor ihrer
Wandlung in analoge Signale, eine poiesis, die nicht mehr sichtbar
wäre, weil sie sich in den Chips von Rechenmaschinen abspielt?
Sind diese Codes Entwürfe des späteren Outputs, oder gibt
es auch Entwürfe von Codes?
Was ist Software?
Software besteht aus formalen Anweisungen, d.h. Algorithmen;
sie ist eine formal-logische Partitur, notiert in einem codierten
Zeichensystem. Ob dieser Code aus Nullen und Einsen, dem
Dezimalsystem, dem römischen oder griechischen Alphabet,
Morsecode, einem exakt definierten Repertoire von Stromspannungen
oder den geschalteten Gattern eines Prozessorchips besteht, ist
unerheblich, weil die Codierung austauschbar ist. Wenn Software also
eine Partitur ist, ist sie dann per definitionem ein Entwurf im Sinne
der Blaupause eines ausgeführten Werks?
Man stelle sich ein simples dadaistisches Gedicht auf der
Grundlage von Hugo Balls ,,Karawane" vor:
KARAWANE
jolifanto bambla ô falli bambla
grossiga m'pfa habla horem
égiga goramen
higo bloiko russula huju
hollaka hollala
anlogo bung
blago bung
blago bung
bosso fataka
ü üü ü
schampa wulla wussa ólobo
hej taat gôrem
eschige zunbada
wulebu ssubudu uluw ssubudu
tumba ba-umpf
kusagauma
ba-umpf
Das neue Gedicht könnte aus acht einfachen
Variationen der Zeile ,,tumba ba-umpf" bestehen. Der
Aufführende würde für jede Zeile zweimal eine
Münze werfen und, wenn sie auf die Kopfseite fällt, das
Wort ,,tumba" aufschreiben oder sprechen, und wenn die Zahl
erscheint, das Wort ,,ba-umpf". Ein mögliches Ergebnis
wäre:
tumba tumba
ba-umpf tumba
tumba ba-umpf
tumba ba-umpf
ba-umpf ba-umpf
ba-umpf tumba
tumba ba-umpf
tumba ba-umpf
Eine genaue formale Anweisung zur Herstellung dieses Gedichtes
könnte lauten:
- Nehmen Sie irgendeine Münze, deren zwei Seiten sich
visuell klar voneinander unterscheiden.
- Legen Sie fest, welches für Sie die erste und welches die
zweite Seite der Münze ist.
- Wiederholen Sie die folgenden Anweisungen achtmal:
- Werfen Sie die Münze.
- Fangen Sie die geworfene Münze so auf, daß sie
auf einer ihrer beiden Seite landet.
- Wenn die Münze auf die erste Seite fällt,
führen Sie die folgende Anweisung aus:
- Anderenfalls führen Sie die folgende Anweisung aus:
- Machen Sie eine kurze Pause, um das Ende der Zeile
anzudeuten.
- Werfen Sie die Münze.
- Fangen Sie die geworfene Münze so auf, daß sie
auf einer ihrer beiden Seite landet.
- Wenn die Münze auf die erste Seite fällt,
führen Sie die folgende Anweisung aus:
- Anderenfalls führen Sie die folgende Anweisung aus:
- Machen Sie eine lange Pause, um das Ende des Gedichts
anzudeuten.
Diese Instruktionen sind eindeutig genug, um auch von einer
Maschine ausgeführt werden zu können, und deshalb Zeile
für Zeile in ein Computerprogramm übersetzbar.In der
Programmiersprache ,,Perl", deren Grundsyntax leicht
verständlich ist, könnte man die obigen Anweiseungen wie
folgt schreiben:
for $line (1 .. 8) {
$random_number = int(rand(2));
if ($random_number == 0) {
print "tumba"
}
else {
print "ba-umpf"
}
print " "
$random_number = int(rand(2));
if ($random_number == 0) {
print "tumba"
}
else {
i print "ba-umpf"
}
print "\n"
}
Der Münzwurf wird durch eine Zufahlszahl simuliert, die
die Funktion rand (,,random") ermittelt und die
Funktion int (,,integer") ganzzahlig abrundet. Weil
rand(2) Zufallszahlen zwischen 0 und 1,[`9] ergibt, rundet int die Resultate auf Null
oder eins.
print " "
und
print "\n"
geben ein Leerzeichen bzw. einen Zeilenumbruch aus. Das Programm
kann auf fast jedem Computer ausgeführt werden; es ist eine
einfache Software. Komplexere Programme wie zum Beispiele
Betriebssysteme und Computerspiele unterscheiden sich nicht strukturell
vom obigen Programmbeispiel, denn die Kontrollstrukturen - Variablen,
Schleifen, logische Bedingungen - ähneln sich in allen
Programmiersprachen. Der Unterschied liegt nur in der
größeren Zahl und Verschachtelung der Instruktionen:
Typische PC-Benutzersoftware kann umfaßt mehrere Millionen Zeilen
Programmcode.
Anders als in der Anweisung, das Zufallsgedicht durch
Münzwurf zu erstellen, ist mit dem Perl-Code die Arbeit des
Künstlers getan, sobald die Instruktionen niedergeschrieben und
in ihrer Logik fehlerfrei sind. Nicht ein menschlicher Performer,
sondern die Maschine führt die Instruktionen aus, so, wie ein
mechanisches Klavier eine gestanzte Partitur spielt. Im Kollaps der
Grenzen von Architektur und Gebäude, Entwurf und Realisation
liegt die künstlerische Faszination des Programmierens.
Betrachtet man Konzept, Entwurf und Ausführung als drei Schritte
eines Schaffensprozesses - der erste immateriell, der zweite in einer
simplifizierten und portablen Codierung, der dritte in komplexer
Codierung6 - so erübrigt beim Programmieren
von Maschinen der zweite Schritt den dritten.
Im Gegensatz zum Binärcode herkömmlicher Daten wie
digitalisierter Bilder, Töne und Textdokumente verursacht ein
algorithmischer Instruktionscode einen generativen Prozeß.
Daß Software Rechner für Berechnungen, nicht bloß
als Speicher- und Übertragungsmedium nutzt, unterscheidet sie
von nichtalgorithmischem digitalen Daten. Ebenso verhält es sich
mit algorithmischen Musikkompositionen gegenüber CD- oder
mp3-Tonkonserven, algorithmisch generiertem Text gegenüber
sogenanntem ,,Hypertext" (einem Datenbank- bzw.
Verknüpfungsmodell, das per se keine Algorithmik vorsieht), oder
graphischen Hacker-,,Demos" gegenüber Videobändern.
Wenn es keine digitalen Daten ohne Programme gibt, die sie speichern,
übertragen, modifizieren und an analogen Schnittstellen
ausgeben, gibt es auch keine digitalen Künste ohne jene
Software-Schichten, die Künstler und ihr Publikum entweder
für gegeben halten oder mitgestalten. Zwar kann man Computer
nutzen, ohne sie selbst zu programmieren, doch ist es nicht
möglich, sie ohne Software zu verwenden. Die Frage ist nur, wer
sie programmiert.
Verknappung des Quellcodes
Aus den Zufallsversen könnte man schließen,
daß der Text zwar variabel ist, seine Partitur jedoch stabil
und linear. Dies stimmt zwar und relativiert somit, wie Inke Arns
argumentiert, alle Behauptungen der ,,Nichtlinearität" oder
des Verlusts von Einschreibung in digitalen Kunstwerken,7.
Trotzdem kann auch ein funktional identisches Programm verschieden
notiert werden, auch innerhalb derselben Programmiersprache. Die
obigen ersten Quelltexte des Zufallsgedichts zum Beispiel sind zwar
einfach zu verstehen, aber unschön formuliert, weil sie
Befehlsblöcke redundant wiederholen. Stattdessen könnte man
die Anweisung auch so notieren:
- Nehmen Sie irgendeine Münze, deren zwei Seiten sich
visuell klar voneinander unterscheiden.
- Legen Sie fest, welches für Sie die erste und welches die
zweite Seite der Münze ist.
- Wiederholen Sie die folgenden Anweisungen achtmal:
- Wiederholen Sie die folgenden Anweisungen zweimal:
- Werfen Sie die Münze.
- Fangen Sie die geworfene Münze so auf, daß
sie auf einer ihrer beiden Seite landet.
- Wenn die Münze auf die erste Seite fällt,
führen Sie die folgende Anweisung aus:
- Anderenfalls führen Sie die folgende Anweisung
aus:
- Machen Sie eine kurze Pause, um das Ende der Zeile
anzudeuten.
- Machen Sie eine lange Pause, um das Ende des Gedichts
anzudeuten.
In Perl würde daraus:
for $line (1 .. 8) {
for $word (1 .. 2) {
$random_number = int(rand(2));
if ($random_number == 0) {
print "tumba"
}
else {
print "ba-umpf"
}
print " "
}
print "\n"
}
Noch kürzer und eleganter können die Anweisungen
notiert werden, wenn man die Wörter ,,tumba" und
,,ba-umpf" und die beiden Trennzeichen (Leerzeichen und
Zeilenumbruch) jeweils in numerisch indizierte Speicher schreibt, um
sie in ein zwei Durchgängen einer Wiederholungsschleife
innerhalb der achtfachen Wiederholungsschleife auszulesen:
@word = ("tumba","ba-umpf");
@separator = (" ", "\n");
for $line (1 .. 8) {
for $word_number (0 .. 1) {
print $word[int(rand(2))], $separator[$word_number];
}
}
So kollabiert in der Software zwar der Unterschied von Entwurf
und Werk, die Verbesserungen des Quellcodes - bei unveränderter
Funktion des Programms - zeigen jedoch, daß es auch von
algorithmischer Schrift Entwürfe und vorläufige Skizzen
gibt, so daß die Tatsache, daß ein Programm gut
funktioniert, keine oder nur mittelbare Schlüsse auf die
Qualität seines Quellcodes erlaubt. In kommerzieller
Softwareentwicklung heißen Software-Entwürfe ,,rapid
prototypes" und sind Skizzierungen einer Software in einer
einfach zu programmierenden Sprache, die aber nur langsam laufende
Programme erzeugt; es gibt ,,Bananensoftware", die unvollkommen
ausgeliefert wird und beim Kunden reift, und ,,Vaporware", die
nur in der Form einer Produktankündigung existiert, um
Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken und Kunden präventiv
von bereits verfügbaren Konkurrenzprodukten abzuhalten. Die
Prozessualität von Software drückt sich nicht zuletzt darin
aus, daß Computerprogramme mit Versionsnummern versehen werden
und Programmierer Versionskontrollsoftware einsetzen, die
Änderungen am Code sukzessiv registriert, synchronisiert und
gegebenenfalls rückgängig macht.
Auch digitale Kunst und Aufsätze im Netz werden zunehmend
mit Versionsnummern versehen. Der Software-Jury des (selbst
versionsnumerierten) Festivals transmediale.01 lag das
Computerprogramm ,,Signwave Autoillustrator" von Adrian Ward -
eine Graphiksoftware, deren Werkzeuge ihren äußeren
Anschein subvertieren, indem sie algorithmisches Eigenleben
entwickeln - in einem Entwicklungsstand vor, den heutige Versionen
weit hinter sich gelassen haben und deshalb für interessierte
Kuratoren oder Kunsthistoriker nur schwer rekonstruierbar wäre.
So gibt es immer noch gute Gründe, digitalen Codes einen
,,Verlust von Inskription" zu attestieren, wie es die
brasilianische Autorin und Netzkünstlerin Giselle Beiguelman
tut.8 Dieser Verlust unterscheidet sich zwar
nicht von der altbekannten Instabilität mündlich
überlieferter Literatur sowie musikalischer und theatraler
Aufführungen. Neu ist, daß er auch maschinell
veröffentlichte und massenreproduzierte Schrift betrifft.
Die gängige programmiertechnische Methode der
Eindämmung von Code-Instabilität, ist, verschiedene
Funktionseinheiten der Software voneinander zu trennen; so daß
nur die Schnittstellen, an denen ein Programmteil einem anderen Daten
übermittelt, stabil bleiben müssen, nicht jedoch die
Programmteile selbst. Was hier ,,Schnittstelle" (oder
,,API" für ,,Application Interface") heißt, hat
wenig mit dem medienwissenschaftlichen Verständnis des
,,Interface" als audiovisuell-taktiler Koppelung von Menschen
und Maschinen zu tun, sondern entspricht in
literaturwissenschaftlicher Terminologie einem ,,Paratext" wie
z.B. der alphabetischen Organisation und Querverweisstruktur eines
Lexikons, die als stabile Struktur den instabilen Code von Artikeln
verbindet, die über Auflagen hinweg umgeschrieben werden.
Bereits die Unterscheidung von ,,Programmen" und ,,Daten"
bezeichnet solche eine Schnittstelle: Ein ,,digitales Photo" zum
Beispiel ist eine digitale Codierung von Farb-Pixeln, die erst
mittels algorithmischer Hilfe des Computerbetriebssystems in
elektrische Spannungen umgewandelt wird, die einen Bildschirm oder
einen Drucker das Photo zeichnen lassen. Bloße Konvention ist
es, nicht die Steueralgorithmen selbst in die digitale Speicherung
des Bilds einzubetten, sondern diese Algorithmen in ein
,,Programm" oder ,,Betriebssystem" zu separieren.9
Beispiele computertechnisch normierter Schnittstellen sind
Dateiformate, z.B. die Kopfzeilen einer E-Mail-Nachricht, und
Netzwerkprotokolle. Wenn Schnittstellen systemübergreifend und
herstellerunabhängig genutzt werden sollen, werden sie von
Industriegremien wie der IETF (Internet Engineering Taskforce) oder
dem W3C (World Wide Web Consortium) analog zu DIN- oder ISO-Normen
schriftlich spezifiziert und nicht selten durch eine
,,Referenzimplementation" in Gestalt eines Computerprogramms
ergänzt, um weitere Implementationen zu ermöglichen. E-Mail
zum Beispiel ist im Dokument RFC 822 standardisiert, erlebte seine
Referenzimplementation in den 1970er Jahren durch das Unix-Kommando
,,mail" und kennt heute zahllose konkurrierende Implementationen
in Form von Programmen wie Eudora, Outlook Express oder Mozilla Mail.
Trotz der Veränderbarkeit von Bits und Bytes existieren in
der Softwareentwicklung also vielfältige Unterscheidungen von
,,Entwurf" und ,,Werk", deren Schwelle jedoch nicht ein
Wechsel des Materials markiert. Das Material aller Computerprogramme
bleiben als Nullen und Einsen abgelegte Algorithmen, ihre
Übertragungs- und Speichermedien jedoch wechseln von
elektrischem Strom (im Chip) zu magnetischer Ladung (auf der
Festplatte oder Diskette), Funkwellen (in drahtlosen Netzen),
optischen Markierungen (auf CD- oder DVD-Speichern) oder sogar
gebundenem Papier (in Ausdrucken und Handbüchern).
Softwarekunst
Definiert man Software als ausführbare formale Anweisung
oder logische Partitur, dann beschränkt sich sie nicht auf
Computer. Die erste, in deutscher Umgangssprache verfaßte
Anweisung zur Herstellung des dadaistischen Zufallsgedichts ist nicht
minder Software denn ihre drei Übersetzungen in die
Programmiersprache Perl, solange ihre Instruktionen
gleichermaßen von einem Menschen und von einer Maschine
ausgeführt werden können. So wäre auch eine
Klavierpartitur dann ,,Software", wenn sowohl ein Pianist, als
auch ein mechanisches Klavier ihren Code in Musik umsetzen
können. Umgekehrt ist auch der Perl-Quellcode des dadaistischen
Zufallsgedichts les- und ausführbar, ohne daß man
dafür eine Maschine bräuchte. Da jeder Algorithmus bis zu
einem kritischen Komplexitätsgrad auch mental ausgeführt
werden kann, wie es vor der Erfindung des Computers üblich war,
gibt es Software ohne Hardware. Ein Beispiel dafür sind
Programmierhandbücher: Der Quellcodes, der in ihnen abgedruckt
ist, wird nur selten auf Maschinen ausgeführt, sondern dient dem
Leser als Beispiel, dem er intellektuell folgt.10
Statt Hugo Balls ,,Karawane" in Computerprogramme
umzuformen, könnten auch einige historische Dada-Texte, allen
voran Tristan Tzaras Anleitung zur Abfassung eines dadaistischen
Gedichts durch zufälliges Vertauschen von Wörtern eines
Zeitungsartikels, als Software gelesen werden:
Um ein dadaistisches Gedicht zu machen
Nehmt eine Zeitung.
Nehmt Scheren.
Wählt in dieser Zeitung einen Artikel von der Länge
aus, die Ihr Eurem Gedicht zu geben beabsichtigt.
Schneidet den Artikel aus.
Schneidet dann sorgfältig jedes Wort dieses Artikels aus
und gebt sie in eine Tüte.
Schüttelt leicht.
Nehmt dann einen Schnipsel nach dem anderen heraus.
Schreibt gewissenhaft ab in der Reihenfolge, in der sie aus
der Tüte gekommen sind.
Das Gedicht wird Euch ähneln.
Und damit seid Ihr ein unendlich origineller Schriftsteller
mit einer charmanten, wenn auch von den Leuten unverstandenen
Sensibilität.
11
Tzaras Anleitung ist ein Algorithmus, Software, die ebenso
für einen Computer geschrieben sein könnte.12
Übersetzte man diese Anleitung aus dem Deutschen oder originalen
Französischen in ein Perl- oder C-Programm, würde nicht
Kunst in Software umgesetzt, sondern eine nicht-maschinelle in eine
maschinelle Softwarekunst transkribiert, vergleichbar etwa mit den
formal-kombinatorischen Kompositionsverfahren der seriellen Musik des
20. Jahrhunderts, in denen der Nucleus programmierter Computermusik
bereits angelegt war.
Zugegebenermaßen ist der Begriff der Software historisch
jünger als die Kunst, auf die er hier rückwirkend
angewendet wurde. Was Software ist und in welchem Verhältnis sie
zu den zeitgenössischen Künsten steht, ist eine Frage, die
sich erstmals der Kunstkritiker und -theoretiker Jack Burnham
stellte, als er 1970 eine Ausstellung mit dem Titel ,,Software"
im New Yorker Jewish Museum kuratierte. ,,Software" gilt heute
als erste Präsentation der Concept Art. Sie konfrontierte
Installationen u.a. von Joseph Kosuth, Art and Language, Hans Haacke
und Douglas Huebler mit Computersoftware, die Burnham konzeptuell
interessant fand, so zum Beispiel den ersten Prototypen von Ted
Nelsons Hypertext-System ,,Xanadu".13 Schon 1961 hatte Henry
Flynt Konzeptkunst definiert als Kunst ,,deren Material ,Konzepte`
sind, so, wie z.B. Klang das Material von Musik ist"14.
Bestimmt man Softwarekunst analog als Kunst, deren Material formaler
Instruktionscode ist, so haben beide Künste zwei Merkmale
gemeinsam:
- die Einheit von Entwurf und seiner Ausführung;
- den Gebrauch von Sprache, in Form von Anweisungen in der
Softwarekunst und von Konzepten in der Konzeptkunst. Wie Flynt
schreibt, stehen ,,Konzepte in enger Beziehung zur Sprache, so
daß Konzeptkunst eine Art der Kunst ist, deren Material die
Sprache ist."15
Es ist kein Zufall, daß die meisten zuvor zitierten
Beispiele vorelektronischer Softwarekunst literarischer Herkunft
sind. Literatur ist eine Konzeptkunst, da sie nicht per
definitionem nur an Sprache gebunden ist, nicht an an materielle
Objekte und Orte. Die Schwierigkeiten des Kunstbetriebs mit
digitaler Netzkunst, die sich weder gut ausstellen, noch als
Originalobjekt verkaufen läßt, sind dem
Literaturbetrieb, der traditionell zwischen Kunstwerk und
materiellem Träger unterscheidet, fremd.16
Da auch formale Sprachen Sprachen sind, ist Software eine
Literatur - ohne allerdings den Umkehrschluß. Da formale
Sprachen nur eine kleine Untermenge der Sprache bilden, sind
Analysen von Softwarecode auf andere Literatur nicht einfach
extrapolierbar.
Wenn laut Henry Flynt Konzepte künstlerisches
,,Material" werden, dann unterscheidet sich Konzeptkunst von
anderer dadurch, daß sie Konzepte exponiert, sich faktisch auf
Entwürfe verlegt. Analog unterscheidet sich Softwarekunst von
bloß softwaregestützter Kunst dadurch, daß sie ihre
Instruktionen und Codiertheit nicht ausblendet. Konzeptkunst im
strengen Sinne Flynts und nicht-elektronische Softwarekunst zugleich
ist die ,,Composition 1961" des amerikanischen Komponisten La
Monte Young, dessen Stücke die Anfänge von Fluxus und der
Minimal Music prägten. Das Stück besteht aus einer Karte
mit der Aufschrift ,,Draw a straight line and follow it", eine
Anweisung, die unzweideutig genug ist, um auch von einer Maschine
ausgeführt werden zu können. Zugleich ist sie nicht
konsequent realisierbar, ohne physikalische Grenzen zu sprengen. Also
bleibt die Ausführung des Stücks imaginär,
konzeptuell.
Entwurf und ausführbarer Code verkoppeln sich auch in Sol
LeWitts ,,Plan for a Concept Art Book" von 1971, einer Reihe von
Buchseiten, die den Leser dazu anweisen, auf ihnen Striche zu ziehen
und bestimmte Buchstaben durchzustreichen.17 Dennoch zeigt sich an
LeWitt, daß jene Kunst, die erst in den 1970er Jahren den
Begriff ,,Concept Art" bekannt machte, in ihrem Konzeptualismus
nicht ansatzweise so konsequent und philosophisch radikal war wie
jene von Henry Flynt, La Monte Young und Christer Hennix.
Während die ,,Composition 1961" eine Konzeptbeschreibung
eines Kunstwerks ist, das wiederum selbst nur als Konzept mental
existieren kann, entwirft LeWitt den ,,Plan" eines materiellen,
typographisch-visuellen Kunstwerks. So repräsentiert LeWitts
Arbeit eine Kunst, die besser ,,Entwurfskunst" hieße, weil
ihr Material nicht Konzepte sind, sondern in Partituren notierte
Bilder und Objekte.
Hat Programmcode solche Implikationen, so reichen formale
Analysen nicht aus. Konzeptkunst bedeutet potentiellen Terror des
Konzepts, Softwarekunst potentiellen Terror des Algorithmus, den
Terror minimaler Anweisungen also, deren Ausführungen aus dem
Ruder laufen. Sades ,,120 Tage von Sodom" sind, wie vom
Kybernetiker Abraham M. Moles 1971 angedeutet, als eine
Programmierung des Exzesses und seiner simultanen Reflexion in Prosa
lesbar.18 Auch der Boom von Spam- und
Pseudo-Viren-Codes in zeitgenössischer Digitalkunst bezeugt die
perverse Koppelung von Minimalismus und Selbstinflation der
Software.19 An La Monte Youngs ,,Composition
1961" können nicht nur die Begriffe von Software und
Softwarekunst hinterfragt weredn. Als erste und bis dato eleganteste
künstlerische Störsoftware weist sie auch auf die implizite
Ästhetik und Politik formaler Instruktionen hin. 1968, zwei
Jahre vor Burnhams ,,Software"-Ausstellung, begründete
Donald Knuth mit dem ersten Band seines Buchs ,,The Art of Computer
Programming" die moderne universitäre Informatik.20.
Knuths programmatischer Titel schrieb sich in das von Steven Levy
überlieferte Hacker-Credo ein, demzufolge ,,man Kunst und
Schönheit mit Computern schaffen" könne.21 So
recyceln Hacker, sonst die Avantgarde eines umfassenden kulturellen
Verständnisses digitaler Technologie, einen klassizistischen
Begriff von Kunst als Schönem, und formen daraus ein Konzept
digitaler Kunst als innerer Schönheit des Quellcodes; ein
ästhetischer Konservativismus, der in ingenieur- und
naturwissenschaftlichen Kulturen weit verbreitet ist und
neupythagoräischen Digitalkitsch wie z.B. Fraktalgraphiken
popularisiert hat.
Softwarekunst durchkreuzt dieses Ideal dann, wenn sie auch die
ästhetischen Register des Häßlichen, Monströsen,
Dysfunktionalen, Vorgetäuschten und Inkorrekten zieht.22
Ohnehin entsteht sie nicht mehr in Reinräumen, sondern inmitten
einer Abundanz von zirkulierendem Programmcode. Dies unterscheidet
sie selbst von Werken wie Tzaras Dada-Gedicht, das zwar einen
Überangebot massenmedialer Information voraussetzt, aber nur
diese und nicht seinen eigenen Algorithmus collagiert; das Resultat
ist chaotisch, der Prozeß jedoch regelhaft.
Seit der Popularisierung von Personal Computern und Internet
entsteht Softwarekunst unter der postmodernen Bedingung, daß
nicht nur Zeitungsartikel, sondern auch Programmsteuercode massenhaft
als Spielmaterial zur Verfügung steht. Die Arbeiten der
australischen Netzkünstlerin mez zum Beispiel sind in einer
Kunstsprache ,,mezangelle" verfaßt, die English mit Code
aus Computerprogrammen und Netzwerkprotokollen hybridisiert. Ihre
,,net.wurks" sind eine unsaubere, dysfunktionale Softwarekunst;
statt Programmcode synthetisch zu konstruieren, verwenden sie die
Computercodes als Readymade, sezieren sie und setzen sie so neu
zusammen, daß sich semantische Untertöne der vermeintlich
bloß technischen Softwaresyntax reflexiv herausschälen.
Mit ihr verwandt ist Softwarekunst, die Kontrollparameter
kommerzieller Computerprogramme manipuliert. Joan Leandres
,,retroyou" und Eldar Karhalevs und Ivan Khimins ,,Screen
Saver" sind untergründige Mißkonfigurationen
kommerzieller Software: eines Autorennspiels, das durch technisch
simple, aber wirkungsvolle Eingriffe zu einem Rennen gegenstands- und
schwereloser Körper in einem nichteuklidischen Raum wird, sowie
des Bildschirmschoners von Microsoft Windows, umkonfiguriert zu einem
suprematistischen, bildschirmfüllenden Quadrat.
Wenn eine Kulturwissenschaft und -kritik der Software sich
ihren Gegenstand nicht unkritisch aus der Bildschirmgraphik von
Desktop-Betriebssystemen heraus erklärt, wird sie um formale
Begriffsdefinitionen nicht herumkommen, ohne die es auch kein
ästhetisches Bewußtsein poetischer Spekulation und
Experimente in Quellcodes geben kann. Durch ihr spielerisches
Unterlaufen von Formalismen zeigt die Kunst von mez, Leandre und
Karhalev/Khimin jedoch, daß Softwarekunst nicht per se
konzeptualistisch ist, sondern sowohl eine Kunst sein kann, deren
Material formaler Instruktionscode ist, als auch eine Kunst, die ein
kulturelles Verständnis von Software reflektiert.
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Fußnoten
1So z.B. in [Lan92],
[SB99] und [Gra01]
2Ausnahmen sind die Arbeiten von Abraham
Moles [Mol71] und Max Bense [Ben62], und, neueren Datums, jene von
Wolfgang Hagen und Matthew Fuller Wolfgang Hagen [Hag97],
Matthew Fuller [Ful01]
3Stilbildend für dieses Genre
digitaler Kunst waren Jeffrey Shaws Installationen im ZKM Karlsruhe,
dazu s.a. [Gra01].
4[Cag82] - Über
computergenerierten Zufall sagt die Softwarekünstlerin Ulrike
Gabriel, daß es ihn nicht gäbe, weil bereits die Maschine,
die ihn berechnet, nicht zufällig da sei. Tatsächlich fehlt
eine Kritik der Gleichsetzung von stochastischem und ontologischem
Zufall in der Musik von John Cage und seinen Schülern.
5Siehe hierzu auch den Aufsatz ,,The
Aesthetics of Generative Code" von Geoff Cox, Adrian Ward und
Alex McLean, [CWM01]
6Um eine Dichotomie von Sinnlichem und
Abstrakten zu vermeiden, wie sie Nelson Goodman mit seinem
Begriffspaar des ,,autographischen" und ,,allographischen"
Zeichens vorschlägt, siehe [Goo76]
7Siehe [Arn01]
8,,Notes on the Loss of
Inscription",
http://www.p0es1s.net/poetics/symposion2001/a{\_}beiguelman.html
9So wäre es denkbar, daß die
Medienindustrie, um digitale Privatkopien zu verhindern,
demnächst audiovisuelle Daten (wie z.B. Musikaufnahmen) direkt
in proprietäre Ein-Chip-Abspielhardware einbetten würde.
10Was zum Beispiel auch für die
Perl-Listings in diesem Text gilt.
11Als Teil des ,,Dada MANIFEST über
die schwache Liebe und die bittere Liebe" publiziert in
[Tza78], französisches Original in
[Tza75]
12Meine Adaption des Texts als
Perl-Programm steht unter der Adresse
http://userpage.fu-berlin.de/{\~}cantsin/permutations/tzara/poeme{\_}dadaiste.cgi
bereit.
13Zur Ausstellung ,,Software" siehe
[Sha]
14,,of which the material is
`concepts,' as the material of for ex. music is sound",
[Fly61]
15Ebenda.
16Ausnahmen wie visuelle Poesie
bestätigen die Regel.
17[Hon71], S.
132-140
18[Mol71], S. 124
19Siehe dazu: Franziska Nori (Hrsg.), I
love you, Computer Hacker Viren Kultur, Frankfurt a.M. 2002
(Ausstellungskatalog des MAK Frankfurt); die transmediale.02
zeichnete zwei solcher Selbstreplikations-Programme,
,,tracenoizer" und ,,forkbomb.pl" mit ihrem
Softwarekunstpreis aus
20knuth:art
21nach Steven Levy, [Lev84]. Der deutsche Chaos Computer Club
gehört mit seinem jährlichen ,,Art and Beauty
Workshop" zu den Anhängern dieses Glaubenssatzes.
22Weshalb es auch verkehrt wäre,
Softwarekunst auf ,,running code", also technisch funktionale
Algorithmen zu beschränken oder, aus politischen Gründen,
Programme mit geheimen Quellcode und unfreier Lizenzierung aus
Softwarekunstpräsentationen auszuschließen.