Kombinatorische Dichtung und Computernetzliteratur (Kasseler Fassung) Florian Cramer 19.10.2000 1 Die Website Permutationen Die Veranstalter haben mich gebeten, über meine Arbeit Permutationen zu sprechen; eine Website, die kombinatorische Dichtungen von der Spätantike bis zur Gegenwart als Perl-CGI-Programme rekonstruiert und neu erfindet,1 auf Papier notierte Sprachalgorithmik also in Computeralgorithmen übersetzt. Diese Website http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/index.cgi ist auch auf der Ausstellung p0es1s zu sehen; sie ist einfach gemacht, einfach zu lesen und verfolgt aus meiner Sicht keine künstlerische Ambitionen, sondern ist Textpataphysik und fröhliche Philologie. 1.1 Demonstration 1.1.1 Hauptseite Was kombinatorische bzw. permutative Texte sind, erschließt sich bereits im Umgang mit der Hauptseite der Permutationen: Bei jedem neuen Aufruf variiert sie ihren Titel typo- und orthographisch, ergänzt ihn durch ein Anagramm, permutiert die Reihenfolge der Überschriften ,,Permutationsdichtung``, ,,Kreisscheibendichtung``, ,,Diverse Kombinatoriken``, und unterhalb dieser Überschriften auch die Liste der einzelnen Dichtungen. 1.1.2 Optatianus Porfyrius, Carmen XXV Auf der einfachsten Ebene demonstrieren die ,,Permutationen``, daß algorithmisch-permutative Dichtung nicht erst in frühmodernen Avantgarden, von der konkreten Poesie oder als Computerlyrik erfunden wurden. Prototypen sind der Chiasmus und das auch ,,permutatio`` genannte Hyperbaton in der antiken Rhetorik,2 das älteste in der Permutationen adaptierte Textbeispiel ist Optatianus Porfyrius' permutativer Carmen XXV aus dem vierten nachchristlichen Jahrhundert. In diesem Gedicht können jeweils die Wörter der ersten und vierten Spalte sowie der zweiten und dritten Spalte in ihrer Reihenfolge vertauscht werden.3 Da die Wörter der fünften Spalte fixiert sind, bleibt das hexametrische Versmaß gewahrt. In meiner Computer-Adaption permutiert der Text auf Knopfdruck und nach dem Zufallsprinzip. Insgesamt gibt es 1,62 Milliarden Permutationen des Gedichts. Meine deutsche Interlinearübersetzung lautet: I Die Musen komponieren beschwerliche Glücksgesänge II Mißtönende Bänder verknüpfen (sich) durch unebene Metren III Die schroffen (Töne) beschweren und winden die Brust des Sängers IV Aus allseits zerstreuten Wörtern besteht jeder einzelne (Ton) von ihnen. Optatianus Porfyrius, der auch ein wichtiger formaler Innovator der europäischen Figurendichtung ist, läßt also sein Gedicht sich ästhetisch selbst reflektieren und zerstreut diese Reflexion wiederum durch den Wechsel der Wörter. Bedeutsam wird dieses Gedicht für die Geschichte der Lyrik, weil der Renaissance-Poetiker Julius Caesar Scaliger 1561 aus ihm die Definition einer kanonischen Gedichtform, des Proteusverses, ableitet.4 1.1.3 Julius Caesar Scaliger, Proteus Scaligers Beispielvers ,,Perfide sperasti divos te fallere Proteu`` (,,Treulos hofftest Du, Proteus, die Götter zu täuschen``) wird zum Prototyp von unzähligen Wortpermutationsversen, die im 17. Jahrhundert sowohl auf Latein, als auch in den neuen Nationalsprachen gedichtet werden. Wie Optatianus' Carmen XXV, kann auch Scaligers Vers nur eingeschränkt permutiert werden, beachtet man den Hexameter. Im 17. Jahrhundert koinzidiert die Rezeption Scaligers schließlich mit der Rezeption der ,,ars`` von Raimundus Lullus und der christlichen Kabbalistik. Was bei Lull noch ein Verfahren zur Erzeugung von Aussagensätzen ist, wird nun zur generativen Systematik enzyklopädischen Wissens. Proteus-Versifikatoren wie Thomas Lansius, Georg Philipp Harsdörffer und Quirinus Kuhlmann sind zugleich auch Wissenschaftler und Sprachforscher. 1.1.4 Georg Philipp Harsdörffer, Fünffacher Denckring Der Nürnberger Dichter Georg Philipp Harsdörffer dichtet nicht nur zwei Proteusverse (die ebenfalls in den Permutationen adaptiert sind), sondern auch eine deutsche Wortkombinationsmaschine, den Fünffachen Denckring der teutschen Sprache.5 An seinen Kreisscheiben sollten sich (idealiter) sämtliche existenten und potentiellen Wörter der deutschen Sprache bilden lassen. Harsdörffer rekurriert hier nicht nur auf Lull, sondern auch auf den Sprachwissenschaftler Justus Georg Schottelius, der die kombinatorische Fügung sogenannter ,,Stammwörter`` als Grundprinzip der deutschen Sprache begreift und diese antinominalistisch verstandenen ,,Stammwörter`` direkt von der hebräischen und göttliche Sprache ableitet. 1.1.5 Tristan Tzara, Dada-Gedicht Geht es in den Proteusdichtungen des 17. Jahrhunderts vor allem um die Regelhaftigkeit und Berechenbarkeit der Permutation, so werden in der Moderne dieselben Formen wiederbelebt unter dem Vorzeichen der Unberechenbarkeit und des Zufalls. Der Dadaist Tristan Tzara weist an, nach ein Gedicht zu schreiben, indem man die Wörter eines Zeitungsartikels ausschneidet, in einer Tüte mischt und in der gezogenen Reihenfolge abschreibt.6 Trotz Tzaras antiklassischem Gestus ist seine Anleitung, eine Menge von Wörtern zu selektieren, zu separieren und zu permutieren regelkonform zu Julius Caesar Scaligers Definition des Proteus-Gedichts. Es vertauschen sich allerdings nicht nur die Vorzeichen von Determination und Zufall, sondern auch von Offenheit und Geschlossenheit des Systems. Alle vormodernen Permutationsgedichte versetzen ein ihnen fest eingeschriebenes Set von Daten, während hier nur noch ein Prozeß definiert wird, der mit beliebigen Daten gefüttert werden kann.7 1.1.6 Here Comes Everybody (nach James Joyce, Finnegans Wake) Die Pemutationen ergänzen ihre Archäologie um einige selbsterfundene Automaten wie Finnegans Wake-Prozessor, der die Poetik von Joyces Roman maschinell imitiert, indem er dessen Text per Silbentrennung und Pseudo-Markov-Ketten zu stets neuen Texten mit stets neuen Schachtelwörtern rekombiniert.8 2 Sprachkombinatorik und Computertext Die Transposition vor-digitaler kombinatorischer Dichtungen in Computerprogramme ist zugegebenermaßen philologisch unkorrekt; auch verwischt sie potentiell die Differenzen zwischen einem theologisch und hermetisch geprägten, antinominalistischen Sprachdenken der Frühneuzeit einerseits und der Auffassung von Sprache als einem arbiträr referenzierbaren Material in den modernen Avantgarden andererseits. Indem die ,,Permutationen`` beide Diskurse nebeneinander stellen, zeigen sie jedoch auf, daß auch die älteren Texte heute nolens volens nicht mehr lesbar sind ohne die perzeptive Vorprägung durch Avantgardedichtung, Computerlyrik und zeitgenössische Texttheorie. Die Beeinflussung ist also eine wechselseitige und somit auch der umgekehrte Schluß erlaubt: daß nämlich ohne die Reflexion von Sprachkombinatorik und algorithmisch prozessiertem Sprachcode jeder Begriff von Dichtung in Computernetzen nur ein restringierter sein kann. Trotz aller historisch-diskursiven Unterschiede gibt es formale Gemeinsamkeiten kombinatorischer Dichtungen, die aus meiner Sicht auch für eine Poetik heutiger Computernetzdichtung von Belang sind: 1. Verdichtung Aus einem denkbar knappen Quellcode wird eine Abundanz von Text erzeugt. 2. Mikro-Grammatik Indem kombinatorische Dichtung die Wort- und Satzbildungsmechanismen der Sprache nachbildet, dichtet sie deren Code selbst. 3. Algorithmische Prozessierung Kombinatorische Dichtung nutzt formalisierte Verfahren, um Sprache zu prozessieren, Text zu filtern und zu transformieren. Hier zeigt sich auch das poetische Potential von Rechenmaschinen jenseits der bloßen Übermittlung fixierter Zeichenmengen auf, die Tatsache also, daß Computer nicht nur Transportmedien, sondern auch Sender und Empfänger, Schreiber und Leser von Text sein können. Da der Computer die gesamte Strecke der Kommunikation bedient, ist er eine universelle Zeichenmaschine und nicht bloß ein Medium. Mit der geisteswissenschaftliche Fehllektüre des Computers als bloßem Medium wurde Netzwissenschaft als ,,Medienwissenschaft`` (statt als Semiotik) mißverstanden und, in direkter Folge, Netzkunst als sogenannte ,,Medienkunst``.9Diese Fehllektüre hat, so scheint es, dazu geführt, daß ein seit Kracauer und McLuhan an Film, Fernsehen, Radio und Video geschultes Begriffs- und Analyseinstrumentarium einfach auf Computer und Internet übertragen wurde. Analog wurden Begriffe wie ,,Multimedialität``, ,,Interaktivität`` und ,,Nonlinearität`` in texttheoretisch und poetologisch fragwürdigen Definitionen in den Diskurs der Netzliteratur importiert und hinterließen dort einen konzeptuellen Trümmerhaufen, der bis heute noch nicht vollständig abgeräumt ist. Auch wenn Textgeneratoren wie jene, die die ,,Permutationen`` versammeln, aus Sicht der Computerprogrammierung äußerst primitiv sind, so lenken sie wenigstens die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Algorithmik ihres Code, auf die maschinelle Ausführbarkeit des Computertexts. Dies geht gegen Gleichsetzungen des Computernetzes mit einem bloßen Übertragungsmedium oder gar einem typographischen Interface, gegen die Verwechselung des Netzes mit der arbiträren Protokollschicht des World Wide Web, gegen die Verwechselung von Netz und Web-Browser und somit auch gegen alle restringierenden Gleichsetzungen von Computernetzliteratur mit dem sogenannten ,,Hypertext`` und den sogenannten ,,Multimedia``. Es trügt der Schein, daß computergenerierter Text den letzteren gegenüber ein marginales Phänomen geblieben ist. Maschinell erstellte Rechnungen, Bankauszüge, Mahnbriefe, die Suchmaschinen und die ,,personalisierten`` Portale und Versandhaus-Seiten im Netz zeigen, daß algorithmisch manipulierte Sprache subtil, aber wirkungsvoll in die Alltagskultur eingedrungen ist. Es erstaunt, daß nur wenige Netzliteratur diesen status quo reflektiert. Die Makroviren Melissa und I LOVE YOU, kleine, in Programmiersprache geschriebene Computertexte, sind deshalb vielleicht die interessanteste und dichteste Netzpoesie der letzten Jahre. Das Prinzip kombinatorischer Dichtung, aus einem denkbar knappen Quellcode eine Abundanz der Sprache zu schöpfen, wird in ihnen durch Infektion, Selbstreplikation und Mutation von Zeichen noch erweitert. An Computerviren zeigt sich, daß Netzdichtung mit einem Code dichtet, dessen bloße Syntax von explosiver Brisanz ist, da globale technische Infrastrukturen von ihm abhängen. Es scheint mir deshalb zur Zeit noch interessanter, die Bedingungen der Codierung von Netzliteratur zu reflektieren, als sich Netzliteratur auf der Wahrnehmungsebene zu beschreiben. Man sollte sich also, so meine These, erst über die technische Poetik (und Poetologie) von Netzliteratur verständigen, dabei die Position des bloßen Beobachters auch gelegentlich verlassen, bevor man sich der Computernetzliteratur als ästhetischem Phänomen nähert. Die ,,Permutationen`` sind, indem sie ihrem gesammelten Material auf die algorithmischen Sprünge helfen und die Philologen-Hände ihres Programmierers schmutzig machen, nichts anderes als eine solche Übertretung der Beobachterstandpunkts aus poetologischem Interesse. Auch wenn sich trefflich argumentieren läßt, daß zum Beispiel der ,,Hypertext`` - zugleich Codierung und ästhetisches Programm der meisten Netzdichtung - sich nur in die oberste Oberfläche des Textgebildes Internet schreibt, leitet sich daraus kein Anspruch ab, daß alle Computernetzdichtung ihren Text gefälligst algorithmisch ausführbar machen soll und simultan mit den Codes der natürlichen Sprache, der Programmiersprachen und der Netzwerkprotokolle dichten. Dies zu fordern, wäre nicht nur vermessen, sondern auch ästhetisch naiv. Nicht vermessen jedoch scheint mir der Anspruch, daß Computernetzdichtung auch in technisch restringierter Codierung ihre semiotischen und technischen Bedingungen so reflektiert, wie es zum Beispiel die konzeptualistische Netzkunst von jodi.org, I/O/D, Mongrel, Heath Bunting, des ASCII Art Ensemble und von 0100101110101101.org bereits tut und getan hat.10 _________________________________________________________ Fußnoten: 1 Kombinatorische Dichtung sei hier definiert als Dichtung, die ihren Text nach festgelegten Regeln umstellt und variiert, in Anagrammen, Proteusversen und Zufallsmontagen zum Beispiel, und die oft nicht diesen Text, sondern nur die poetisch-mathematische Spielanleitung notiert. 2 [4], Bd.2, S.160ff. 3 [5], Bd.1, S.99 4 [6], o.S. 5 [3], Bd. 2, S.517 6 [7] 7Die Computerprogramm-Fassung in den Permutationen profitiert davon besonders, da sie erlaubt, diese Daten beliebig aus dem World Wide Web zu beziehen. 8 Das umgekehrte Verfahren einer Verknappung des Texts durch Mesosticha auf den Namen ,,James Joyce`` verwendet John Cage für sein Hörspiel Roaratoria. Das Verfahren, Text durch stochastische Algorithmen (Markov-Ketten) zu erzeugen, verwendeten bereits in den 1950er Jahren Max Bense (vgl. [2]), später Hugh Kenner und Charles O. Hartman, das von Franz Josef Czernin konzipierte DOS-Programm POE ([1]) sowie der Cybernetic Poet von Ray Kurzweil. 9 Um so erfreulicher ist, daß diese Veranstaltung an einem Lehrstuhl für Semiotik stattfindet und mehrere Semiotiker involviert. 10 Diese Kritik trifft natürlich auch die Permutationen, weshalb ich weder glaube, noch behaupte, daß sie relevant als zeitgenössische Netzliteratur sind. Literatur [1] Franz Josef Czernin. (Vortrag über das Programm POE). Unveröffentliches Manuskript, 1997(?). [2] Reinhard Döhl. Von der ZUSE Z 22 zum WWW. Helmut Kreuzer zum 70sten, 1998. http://www.stuttgart.de/stadtbuecherei/zuse/zuse_www.ht m. [3] Georg Philipp Harsdörffer. Mathematische und philosophische Erquickstunden. Texte der frühen Neuzeit. Keip, Frankfurt (Nürnberg), 3 edition, 1990 (1636). [4] Alfred Liede. Dichtung als Spiel. De Gruyter, Berlin und New York, 1992 (1963/66). [5] Publilius Optatianus Porfyrius. Publilii Optatiani Porfyrii Carmina. ?, Turin, 1973. [6] Julius Caesar Scaliger. Poetices libri septem. ?, Lyon, 1561. [7] Tristan Tzara. Pour fair une poème dadaïste. In Oeuvres complètes. Gallimard, Paris, 1975.