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Zur Eigentümlichkeit von Alvin Luciers Musikkomposition ,,I am sitting in a room`` (1969) gehört, daß man sie in Worten nicht besser beschreiben kann, als sie dies selbst tut. Zu Beginn jeder Aufführung spricht ein Performer - in der Schallplattenaufnahme von 1980 der Komponist selbst im Wohnzimmer seines Privathauses1 - folgende Sätze auf Band:
I am sitting in a room different from the one you are in now.Dieser Text ist also zugleich Partitur und Klangmaterial des Stücks. Er spult sich gemäß seiner Selbstannonce mehrfach im Laufe einer Aufführung ab, in der Schallplattenversion insgesamt 32mal in 44 Minuten. Und wie von ihm expliziert, klingt er schon das erste Playback [1:20-2:35] anders als seine Originalaufnahme: Die Sprechstimme hallt zunächst leicht und mit jeder weiteren Abspielung stärker nach. Technisch wird dieser Effekt dadurch erzielt, daß der Sprechtext von einer Tonbandschleife in den Aufführungsraum abgespielt, mit Raumikrophonen wieder abgehört und durch einen versetzt angebrachten zweiten Tonkopf neu auf die Tonbandschleife aufgenommen wird, so daß beim nächsten Durchgang der Schleife die zweite Generation der Aufnahme abgespielt und die dritte aufgenommen wird, usw..I am recording the sound of my speaking voice and I am going to play it back into the room again and again until the resonant frequencies of the room reinforce themselves so that any semblance of my speech, with perhaps the exception of rhythm, is destroyed.
What you will hear, then, are the natural resonant frequencies of the room articulated by speech.
I regard this activity not so much as a demonstration of a physical fact, but more as a way to smooth out any irregularities my speech might have.
Schon im sechsten Playback [6:45-8:00] hat der Raumhall der Aufnahme sich derart verstärkt, daß seine Schwingungen wie übersteuerte Obertöne der Sprechstimme klingen und diese modulieren. Ab der neunten Playback-Schleife [12:18-13:38] überlagert die Resonanz des Raums den Klang der Stimme. Zwar bleibt ein menschliches Sprechen noch vage identifizierbar, doch sind seine Worte unverständlich geworden. Nach ungefähr 24 der 32 Wiederholungen [33:23-34:46] hat sich die Stimme in glockenartige Klänge aufgelöst. Ihr Frequenzspektrum nivelliert sich in den letzten acht Playback-Schleifen weiter, so daß sie auf einem Oszilloskop beinahe als Sinustöne erscheinen. Da neben den Frequenzen auch die Amplituden der Klänge Trennschärfe verlieren, ist auch der Sprechrhythmus kaum noch als solcher identifizierbar.
In Aufsätzen und Interviews weist Lucier darauf hin, daß in ,,I am sitting in a room`` der Hörraum zum akustischen Filter wird.2 Die Playback-Schleife macht den Raum hörbar, indem sie seine Resonanz zum Eigenklang verstärkt und dadurch in einen autonomen Klangkörper, ein Musikinstrument verwandelt. Schon 1952, siebzehn Jahre vor ,,I am sitting in a room``, hatte John Cages Komposition 4'33'' das akustische Eigenleben des Konzertraums und seiner Umwelt hörbar gemacht, indem er einen Musiker vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden lang still vor dem Konzertflügel sitzen ließ. In ,,I am sitting in a room`` allerdings wird der Klangraum nicht anarchisch, sondern systematisch, beinahe experimentalwissenschaftlich erkundet. Anders als in der Musik der indeterministischen wie der serialistischen Kompositionsschulen des zwanzigsten Jahrhunderts verbinden sich in dem Stück Konzept (bzw. Partitur) und Hörerlebnis auf scheinbar einfache und intuitive Weise. Wahrscheinlich ist es auch deshalb zu einem Klassiker der zeitgenössischen Musik geworden.3
Mit der ,,Music for Solo Performer`` von 1965, seinem neben ,,I am sitting in a room`` und ,,Navigations for Strings`` (1992) bekanntesten Stück, begann Alvin Luciers Abkehr von der seriellen Komposition und vom traditionellen Tonsatz und seine Hinwendung zu einer Musik audiophysikaler Versuchsanordnungen. Der titelgebende ,,Solo Performer`` steuert eine Reihe elektromechanisch betriebener Perkussionsinstrumente mit seinem Gehirn an, dessen Alphawellen von Elektroden abgenommen, elektrisch verstärkt und an die Impulsgeber weitergeleitet werden. Auch dieses Stück ist als kurze Handlungsanweisung in englischer Sprache notiert;4 ein für 1960er Jahre nicht untypischer Notationsstil, der sich unter anderem bei John Cage, in den Fluxus-,,event``-Partituren von George Brecht und Nam June Paik sowie bei La Monte Young findet. .5 Doch unterscheidet sich ,,I am sitting in a room`` nicht nur von den Arbeiten dieser Musiker und Aktionskünstler, sondern auch von allen anderen Kompositionen Luciers darin, daß die Partitur selbst Teil der Aufführung ist und sich an ihr akustisch vollzieht, was sie verbal beschreibt. Um so erstaunlicher ist es, daß Kritiken und Essays ,,I am sitting in a room'' zwar als Klangversuchsanordnung, aber noch nicht als Sprachkunstwerk untersucht haben.
Luciers ältere Music for Solo Performer ist als einfache kybernetische Rückkoppelungsschleife beschreibbar, also als Regelkreises, der Aktionen und Reaktionen zwischen Mensch und Maschine ausbalanciert; denn die Perkussionsinstrumente geben dem Performer akustische Rückmeldung über den Erfolg seiner Gehirnwellen-Konzentrationsübung.6 Im Vergleich dazu ist ,,I am sitting in a room`` eine in sich geschlossenere Komposition: Ihr akustischer Prozeß wird vom Aufführenden zwar ausgelöst, aber nach dem initialen Sprechen und dem Ingangsetzen der Tonband-Apparatur nicht mehr beeinflußt. Und deutet man die graduelle Verhallung der Sprechstimme als Auflösung von Klang, so ist der Prozeß entropisch, entwickelt sich linear und in seinem Resultat vorhersagbar.
Diese scheinbare Geschlossenheit wird jedoch, so meine These, durch drei Verschleifungen der Komposition simultan unterlaufen:
Genau besehen, wiederholt die Tonbandschleife die Sprachaufnahme weder, noch löscht sie sie, sondern sie variiert das akustische Material in jedem Durchgang und transformiert es in einen anderen Klang. Der Informationsverlust im entropischen Übergang vom verständlichen zum unverständlichen Sprachklang ist, deutet man ihn hermeneutisch, nur ein scheinbarer, denn die Playbacks erzeugen nicht Rauschen, sondern modellieren den Raumklang heraus, und dieser ersetzt als neue Information die alte Information des gesprochenen Texts. Die Tonbandschleife produziert auch nicht, wie man vermuten könnte, akustische Rückkoppelung, da nicht die Aufnahmeapparatur sich katastrophisch selbst verstärkt und Raum und Zeit im Rückkopplungs-Pfeifen kollabieren lassen, sondern die Playbacks in ihrer Dauer konstant bleiben. Indem also die Tonbandschleife das Stück periodisiert, rhythmisiert sie es und stellt Ähnlichkeit zwischen seinen Teilen her, durch die dem Hörer die akustische Transformation des Klangmaterials nachvollziehbar wird wie ein Abzählreim. So wird ,,I am sitting in a room'' geradezu zum Lehrbeispiel von Sulzers und Schellings allgemeinen Definitionen des Rhythmus als ,,eine[r] periodische[n] Eintheilung einer Reihe gleichartiger Dinge, wodurch das Einförmige derselben mit Mannichfaltigkeit verbunden wird``.7
Zwar stellt die Tonbandschleife keine akustische Rückkoppelung her; sie ist aber - wie die Versuchsanordnung der ,,Music for Solo Performer`` - als kybernetische Rückkoppelungsschleife beschreibbar, wenn man sie als Teil eines Regelkreises betrachtet, der die akustische Information des gesprochenen Texts mit der Resonanz des Raums ins Gleichgewicht bringt, indem er die Schnittmenge ihrer Eigenfrequenzen erzeugt. Die Resonanz wäre in dieser Lesart Feedback auf die Tonwiedergabe, die Stimme hingegen Störung des akustischen Raums. Sobald der Regelkreis beide Frequenzspektren angeglichen hat, sind die Störungen ausgeglichen und das System in einem Zustand akustischer Invariablität stabilisiert.
Daß mit den Tonfrequenzen der Stimme in der Tat auch Störungen gefiltert werden sollen, expliziert der Schlußsatz der gesprochenen Partitur: ,,I regard this activity not so much as a demonstration of a physical fact, but more as a way to smooth out any irregularities my speech might have``. Sprechakt und Selbstbeschreibung, Objekt- und Metasprache überlagen sich abermals, wenn in der Schallplattenaufnahme diese ,,irregularities`` als stotterende Aussprachen ,,s-s-semblance``, ,,r-r-rhythm``, ,,n-n-not so much`` und ,,s-s-smooth out`` hörbar werden. Liest man ,,I am sitting in a room`` somit als Abschleifung eines Sprachfehlers - und zwar als Abschleifen akustischer, kybernetischer und handwerklicher Art zugleich -, so heben im Stück verschiedene Schleifen einander auf. Die Regelschleife des Tonbands zum Beispiel beseitigt die irregulären Schleifen des Stotterns. In ,,Knaurs Buch der Denkmaschinen`` von 1968 heißt es:
,,Eine Regelkatastrophe biologisch-kybernetischer Art ist etwa das Stottern [...]. Auch hier kommt der [sic] ,feed-back` zu spät, der Regel-Mechanismus ,geht nach`. Die Regelung gerät ,ins Stolpern`.``8In Luciers Komposition bleibt das Stottern zwar nicht mehr als gestörte Phoneme, aber weiterhin als Sprechrhythmus hörbar, sobald die Frequenzen der Stimme vom Raum absorbiert worden sind. Zerstört wird, wie der Sprecher sagt, ,,any semblance of my speech with perhaps the exception of rhythm``, und indem er das Wort ,,rhythm`` stottert, wird es zur selbsterfüllenden Prophezeiung, zum akustischen Beweis nämlich der These, die es zunächst nur wortsemantisch auszudrücken scheint.
Wenn der Sprecher nicht nur ,,rhythm``, sondern auch ,,s-s-semblance``, n-n-not so much`` und ,,s-s-smooth out`` verschleift, Wörter also, die selbst vom Sprechfehler und seiner Behebung sprechen, erweist sich das Stottern im Text von ,,I am sitting in a room`` als rhetorische Strategie und die Verschmelzungen von Sprechakt und Deskription, Objekt- und Metasprache als systematisch. Die Behebung des Fehler mißlingt ohnehin in Luciers komponiertem Maschinenprozeß, der den Sprechfehler ausbügelt (,,smooth out``), indem er aus kleinen Stotterern ein großes Stottern von dreiunddreißig Abspielungen macht und die Stimme murmeln läßt und schließ;ocj erstickt, sobald er sein Ende erreicht hat und die Tonbandschleife das ausgefilterte Klangmaterial tatsächlich nur noch wiederholt. So endet die Aufführung des Stücks im Moment, da sich seine semantisch-verbale Selbstbeschreibung und Partitur ausgelöscht hat und folglich auch nicht mehr anweisen kann, wie weiter zu verfahren ist. Sie bringt sich zum Schweigen, indem sie die Anleitung ihrer selbst zum Schweigen bringt. So kann sie ihre Abbruchinstruktion - ,,play it back into the room again and again until [...] any semblance of my speech[...] is destroyed`` - selbst dann noch ausführen, wenn diese gelöscht ist.
Allerdings beendet diese Abbruchbedingung die Aufführung genau dann, wenn ihr erklärtes Ziel der Glättung der Sprechstimme erreicht zu sein scheint. Dieses Ziel entpuppt sich ohnehin als dubios. Ginge es dem Stück tatsächlich um glattes Sprechen, müßte es erst dann beginnen, wenn seine Aufführung abbricht. So ist, im Gegensatz zur Selbstaussage, der akustische Prozeß nicht Mittel zum Zweck, sondern selbstzweckhaft und inkommensurabel wie der Sprechrhythmus, der auch am Ende der Aufführung hörbar bleiben soll. Wenn er also zum widerständigen Mikro-Rhythmus gegen den abgeschliffenen Makro-Rhythmus der Playbackschleifen wird, vollzieht sich auf der akustischen Ebene der semantische Widerspruch des Sprechpartitur, in der einerseits ,,smooth out any irregularities my speech might have [meine Hervorbung]`` steht und andererseits von der ,,exception of rhythm`` die Rede ist.
Festzuhalten bleiben also drei Rhythmen des Stücks: der Makro-Rhythmus der Tonbandschleifen als Periodisierung des akustischen Prozesses, die ,,exception of rhythm`` als widerständiger Mikro-Rhythmus und darüber hinaus der Meta-Rhythmus des Erklingens und Nichterklingens des Stücks, den die Partitur mit ihrem Startsignal ,,I am recording [...] and going to play it back`` und ihrer Abbruchbedingung ,,until`` steuert.
Wann immer das Stück erklingt, spult sich ,,s-s-smooth out`` als Versprechen ab, das semantisch immer erst dann zutreffen kann, wenn es phonetisch ausgelöscht wurde. So ist ,,[to be] smoothed out`` in doppelten Sinn die Sprachutopie von ,,I am sitting in a room``: metaphysisches Ziel und linguistische Leerstelle. Die Realität des Sprechakts hingegen müßte durch die continuous form ,,smoothing`` ausgedrückt werden. Es wird geschliffen, nichts aber ist geschliffen. Die vom Text metaphysisch unterdrückte continuous form erzwingt den Prozeß und, wie seit 1969 geschehen, die Aufführung des Stücks stets von Neuem. So reflektiert sich die Sprachutopie von Luciers Komposition im Rhythmus ihrer Aufführungen.
1959, zehn Jahre vor der Abfassung von ,,I am sitting in a room``, schreibt der englische Kunsttheoretiker und -aktivist Gustav Metzger das Manifest einer ,,Auto-Destructive Art``, in dem er diese Kunst als ,,total unity of idea, site, form, colour, method and timing of the disintegrative process`` definiert:
,,Auto-destructive art can be created with natural forces, traditional art techniques and technological techniques [sic].Obwohl Metzgers Manifest auf die zu seiner Zeit virulente Objekt- und Aktionskunst gemünzt ist,10 erfüllt auch Luciers Musikstück alle seine Kriterien eines ,,desintegrativen Prozesses``.11 In einem zweiten Manifest von 1960 definiert Metzger autodestruktive Kunst als ,,art which contains within itself an agent which automatically leads to its destruction within a period of time``.12 In ,,I am sitting in a room`` ist dieser ,,agent`` nicht, wie es scheinen mag, die Tonbandschleife, welche die Sprechstimme zwar abnutzt, aber potentiell unendlich perpetuieren könnte, sondern die in den Text und seine Auflösung codierte Abbruchbedingung.The amplified sound of the auto-destructive process can be an element of the total conception.
The artist may collaborate with scientists, engineers.
Self-destructive art can be machine produced and factory assembled.``9
Als Anweisung, die immer wieder auf sich selbst angewandt wird, bis ihr Resultat eine definierte Bedingung erfüllt, erfüllt die Sprechpartitur von ,,I am sitting in a room`` alle formalen Kriterien einer rekursiven Funktion. Legt man Douglas R. Hofstadters Klassifikation rekursiver Schleifen zugrunde, so formuliert die Partitur qua ihrer Abbruchbedingung eine begrenzte rekursive Schleife, während das Stottern eine freie Schleife (bzw. ein ,,rekursives Transitionsnetzwerk``) ist, deren Ausgang zwar wahrscheinlich, aber nicht gewiß ist. Mit diesem Modell ist gut beschreibbar, daß die Aufführung als begrenzte Schleife die katastrophische Schleife des Stotterns nicht auflöst, sondern nur überdeckt. So wird seine akustische Experimentaltherapie in der Abfolge seiner immer wieder zum Scheitern verurteilten Performances zu einem unendlichen regressus oder, in Hofstadters Terminologie, zu einer ,,seltsamen Schleife``.13 Wenn also dieselben Strukturen, die Mikro-, Makro- und Meta-Rhythmus von ,,I am sitting in a room`` genannt wurden, auch konsistent als Rekursionen beschreibbar sind, so hat Rhythmus in diesem Stück neben seiner Funktion als ,,periodische[r] Eintheilung einer Reihe gleichartiger Dinge`` auch eine logisch-reflexive und somit sprachliche Dimension.
,,Another story about a writer writing a story! Another regressus in infinitum! Who doesn't prefer art that at least overtly imitates something other than its own processes?`` beschwert sich der anonyme Erzähler von John Barths 1968 in ,,Lost in the Funhouse`` erschienenen,,Life-Story``.14 Nicht nur die Entstehungszeit hat ,,Lost in the Funhouse`` mit Luciers Tonbandstück gemeinsam; sein Untertitel ,,Fiction for print, tape, live voice``, annonciert auch eine formale Verwandtschaft. Das erste, ,,Frame Tale`` betitelte Kapitel besteht lediglich aus dem Satz ,,ONCE UPON A TIME THERE WAS A STORY THAT BEGAN``, den der Leser auf ein Möbiusband kleben soll, um ihn als sich unendlich verschleifende Erzählung zu lesen.15 Wie in Luciers Sprechtext überlagern sich in ihm Objekt- und Meta-Sprache. Entweder ist er als unendliche narrative Selbstverschachtelung lesbar, wenn hinter ,,BEGAN`` ein imaginärer Doppelpunkt gelesen wird, oder er formuliert einen Stillstand in der Zeit, wenn die adverbiale Bestimmung ,,ONCE UPON A TIME`` sowohl das Prädikat ,,BEGAN`` abschließt, als auch den Hauptsatz ,,THERE WAS A STORY`` einleitet. ,,Frametale`` und ,,I am sitting in a room`` korrespondieren einander als ein poetischer Text mit eingeschriebener Performance und musikalischer Performance mit eingeschriebenem poetischen Text.
Wie Quellcodes von Computerprogrammen machen sich beide Texte selbst ausführbar. Sie sind zugleich Software und die Daten, die von dieser Software prozessiert werden.16 Doch hypertrophiert die Tonbandschleife von ,,I am sitting in a room``das Möbiusband des ,,Frametale`` insofern, als die Sprechpartitur des Stücks nicht nur sich selbst ausführt, sondern auch sich durch diese Ausführung transformiert, also ein selbstmodifizierender Code ist.
In Sekundärliteratur wird Alvin Lucier weniger als Programmierer oder Sprachkünstler beschrieben, denn immer wieder mit dem Attribut des ,,komponierenden Phänomenologen`` belegt.17 So schreibt der Kritiker James Tenney in seinem Vorwort zu Luciers Buch ,,Reflections``:
,,It is not often that a composer appears whose work is so compelling and yet so different [...] that we find ourselves having to revise our basic (and often unconscious) assumptions - our ,self-evident axioms` - about music``.18Tatsächlich ist ,,I am sitting in a room`` - und sind alle anderen Kompositionen Luciers seit 1965 - anders als serielle Musik z.B. von Stockhausen und Boulez und anders selbst als der Indeterminismus John Cages und seiner Schüler mit klassischen musikalischen Parametern nicht mehr analysierbar. Zusammen mit denen ihnen zeitgenössischen Klangkunst von Max Neuhaus und David Tudor markieren Luciers akustische Versuchsanordnungen einen Bruch in der Geschichte der komponierten Musik, der mit dem Ende allegorisch kodifizierter Bildsemantiken in der Malerei des späten 18. Jahrhunderts und dem Beginn der bildnerischen Abstraktion vergleichbar ist und ein Wechsel vom Tonsatz zur (kompositions- oder improvisationsmethodisch undogmatischen) Musik-Installation genannt werden könnte. Allerdings relativiert sich dieser epochale Befund vom Bruch des musikalischen Vokabulars - und mit ihm auch die These vom ,,phänomenologischen`` Komponieren Luciers -, wenn man ,,I am sitting in a room`` nicht musikanalytisch, sondern philologisch untersucht. Auch Tenney bemerkt in seinem Vorwort:
,,Most of Lucier's scores are verbal, with only occasional use of standard staff notation. While they all have an elegant simplicity and clarity, several of them seem almost poetic in character``.19Ein Hörer, der den englischen Sprechtext von ,,I am sitting in a room`` nicht versteht, würde dennoch den unmittelbaren Eindruck einer gebundenen, rhythmisiserten Sprache gewinnen. Notiert man den Text so, wie er in der Schallplattenaufnahme phrasiert wird, ergibt sich ein Zeilenfall, der deutlich von Luciers schriftlicher Partitur abweicht.20 Während in der Partitur nur jeweils die vollständigen Satzperioden durch Absatzsprünge getrennt sind, werden im gesprochenen Vortrag darüber hinaus Versgrenzen hörbar:
I am sitting in a roomBeim Hören fällt auf, daß die beiden ersten Verse durchgehend trochäisch betont werden, sich das Metrum im dritten Vers zum Daktylus erweitert und jambisch schließt. Wie dieser enden auch alle (!) übrigen Verse mit männlicher Kadenz. ,,Room`` bildet insgesamt viermal einen identischen Endreim und ist zweimal davon Genitivattribut der daktylischen Phrase ,,nátural résonant fréquencies``.
different from the one you are in now.I am recording the sound of my speaking voice
and I am going to play it back into the room
again and again
until the resonant frequencies of the room
reinforce themselves
so that any s[...]emblance of my speech,
with perhaps the exception of r[...]hythm,
is destroyed.What you will hear, then,
are the natural resonant frequencies of the room
articulated by speech.I regard this activity
n[...]ot so much as a demonstration of a physical fact,
but more
as a way to s[...]mooth out
any irregularities my speech might have.
Liest man ,,I am sitting in a room`` also nicht als Ton-, sondern als Wortkomposition, so zeigt sich, daß sein Bruch mit dem Tonsatz von einer recht konventionellen lyrischen Sprachmusikalität konterkariert wird. Wo das ,,smooth out`` in der akustischen Versuchsanordnung sich stets falsifiziert, gelingt es der Sprechrhythmik, das Stottern als lyrisches Stilmittel zu integrieren und einzuebnen. So löst sich die Sprache in Klang auf schon bevor sie in die Tonbandschleife gerät. Das Sprecher-,,Ich``, auf dem der Titel ,,I am sitting in a room`` insistiert, verliert sich schließlich in den Resonanzschwingungen des Raums. So ist die Differenz von ,,Ich`` und ,,Raum``, die der Text beschreibt, liquidiert, sobald die akustische Schnittmenge ihrer beider Frequenzspektren erklingt. Da sich dann nicht nur ,,smooth out``, sondern auch der Titel ,,I am sitting in a room`` falsifiziert hat, ist es nur konsequent, daß die Aufführung hier endet.
Diese Zeitlichkeit aber negiert der Text. Der Sprecher spricht im Präsens zum Hörer, so, als ob seine Entfernung nur eine räumliche (,,a room, different from the one you are in now``), nicht aber eine temporale wäre. Erst die Tonbandschleife läßt den gesprochenen Text altern und rückt ihn als Echo in die Vergangenheit, bis er zur bloßen Gedächtnisspur geworden ist. Mit zunehmender zeitlicher Distanz aber nähert sich der Sprecher seinem Publikum räumlich an, dadurch nämlich, daß die Stimme durch den Konzertsaal der Live-Aufführung gefiltert wird und sich ihre Aussage vom ,,anderen`` Raum semantisch und akustisch zunehmend verflüchtigt.
In einem Interview sagt Alvin Lucier über ,,I am sitting in a room``: ,,Every room has its own melody, hiding there until it is made audible``.21 Das Stück wird somit zum vielleicht präzisesten poetischen Vollzugsexperiment einer ästhetischen Weltsicht, die 131 Jahre zuvor, 1838, Joseph von Eichendorffs ,,Wünschelrute`` vermaß:
Schläft ein Lied in allen Dingen,Luciers Zauberwort ist die Sprechstimme mit ihrem Frequenzspektrum, das den Raum zu singender Antworten herausfordert. Auch in seiner Poesie genügt es nicht, daß der Raum bloß zu singen vermag, sondern es bedarf der Stimme eines Meta-Physikers, der die des Raums erweckt. Wörtlich heißt es in der Präambel der Partitur: ,,Choose a room the musical qualities of which you would like to evoke [meine Hervorhebung]``.22 Wie in Eichendorffs Gedicht ist in Luciers Musik der anhebende Gesang der Welt keine Allegorie, sondern, mit Walter Benjamin ausgedrückt, romantisch-symbolische ,,Einheit von sinnlichem und übersinnlichem Gegenstand``.23 Zieht man Luciers Selbstaussagen hinzu, so gleichen sich auch die Metaphern des Magischen und Okkulten: ,,I am not as interested in the resonant characteristics of spaces in a scientific way``, gibt er in einem Interview zu Protkoll, ,,as much as I am in opening that secret door to the sound situation that you experience in a room``.24
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.
Obwohl diese romantischen und metaphysischen Diktionen den Raum und die Dinge im Medium des harmonisch-melodischen Eigenklang, nicht des Rhythmus musikalisieren, unterstellen sie latent auch eine Periodisierung des Materials. Denn die Erweckung des Weltklangs ist nicht möglich ohne Nichtidentität von Sprecher und Ding, sowie Nichtidentität ihrer beiden Stimmen, von denen die erste die zweite als Echo auslöst, um sich und ihren Sprecher von ihr letztlich übertönen und überschreiben zu lassen. über Sulzers und Schellings Begriffe hinaus ist Rhythmus in ,,I am sitting in a room`` also periodische Einteilung nicht nur gleichartiger, sondern auch ungleicher Dinge. Luciers Komposition zergliedert die Übertönung der Stimme durch den Raum, ähnlich der Chronophotographie von Edward Muybridge, in zweiunddreißig Perioden, und rhythmisiert sich dadurch zweifach: Erstens durch diese Periodisierung an sich, zweitens dadurch, daß Sprechstimme und Raumecho in den dreißig Zwischenperioden des Stücks nebeneinander, in rhythmischer Verschiebung hörbar werden. Nur durch Periodisierung also werden beide Stimmen dialogisch.
Indem ,,I am sitting in a room`` Sprache prozessual in Klang auflöst und dabei doch Fragment bleibt, ist das Stück romantische Poesie im Sinne sowohl des 116. Athenäums-Fragments25, als auch Eichendorffs, für den die Welt ja nicht tatsächlich singt, sondern zum Gesang nur anhebt. So zeigt sich an Luciers akustischem Autodestruktionsstück die Kontinuität romantischer Programme in den Experimentalkünsten des späten 20. Jahrhunderts. Zwar gibt es offensichtliche Gegensätze: Wo sich die romantische Poesie entgrenzt, begrenzt sich die autodestruktive Kunst, wenn ihre eingebauten Zeitbomben-,,agents`` - das ,,until`` in Luciers Partitur - das Kunstwerk fragmentieren und Totalität verhüten statt evozieren. Auch sind Luciers Räume begrenzt, ihre Harmonie ist nur mikrokosmisch, nicht makrokosmisch wie in Eichendorffs anhebendem Weltgesang.
Andererseits negiert auch die Autodestruktionskunst ihr Künstliches und Begrenztes, etwa wenn Luciers Stück so tut, als schalte sich, nachdem der Performer sich im Raum verloren hat, seine Tonbandschleife quasi von selbst ab und würde sich die Raumresonanz ebenfalls von selbst (,,the resonant frequencies of the room reinforce themselves``) und nicht durch eine technische Apparatur verstärken. Daß ,,I am sitting in room`` Rhythmus in seine Klang- und Sprachutopien nicht einbezieht, überrascht nicht angesichts der Tatsache, daß die Rhythmen des Stücks - sein Stottern und sein Schleifen - gemacht und nicht geschaut, poiesis, nicht aisthesis sind, und deshalb nicht als natürlich (,,natural``) vereinnahmt werden können, sondern widerspenstig the exception of rhythm bleiben.
1[Luc90]; alle folgenden Zeitangaben beziehen sich auf diese Aufnahme.
2Wörtlich: ,,space acts as a filter``, in: [Luc95b], S. 96, sowie identisch in [Luc95a], S. 434 und [Luc95c], S. 444
3Wie die bloße Zahl seiner Aufführungen und Kritiken belegt; in Deutschland wurde ,,I am sitting in a room`` zuletzt 1999 in der Berliner Parochialkirche aufgeführt, davor 1986 ebenfalls in Berlin im Rahmen des Festivals Inventionen. Die Schallplattenaufnahme zirkuliert sogar als mp3-Datei in Internet-Tauschbörsen, trotz ihrer (nach heutigen Maßstäben) sperrigen Größe von 43,5 Megabyte.
4[Luc95b], S. 300. S.a. [Ten95], S. 16: ,,Most of Lucier's scores are verbal, with only occasional use of standard staff notation``.
5Siehe hierzu auch [Sla00], S. 10: ,,Although neither [Luc] Ferrari or Lucier were associated with Fluxus there is still a sense of their raising the problem of the musical avant-garde: the focal point for a musical activity is dispersed away from the institution into an outgrowth of reception contexts made invisible to that institution.
7[Sul94], S. 49, fast wörtlich übernommen in Schellings Philosophie der Kunst [Sch94], S. 157: ,,eine periodische Eintheilung des Gleichartigen, wodurch das Einförmige desselben mit Mannichfaltigkeit, die Einheit also mit Vielheit verbunden wird``.
11Metzgers Vorstellung des Kunstwerks als eines autonom sich steuernden Systems nimmt zwar spätere Konzepte prozessualer Kunst vorweg, unterscheidet sich aber z.B. von Hans Haackes und Jack Burnhams kybernetisch und systemtheoretisch beeinflußten Programmen dadurch, daß sie kein ideales Fließgleichgewicht von System und Umwelt anstrebt, sondern Instabilität und Zeitlichkeit des Kunstwerks betont.
13[Hof79], S. 137-169 und S. 728-738
16Ein Phänomen, für das es auch in der Computerprogrammierung zahllose Beispiele gibt, seit die von Neummann-Rechnerarchitektur die strikte Trennung von Programmlogik und Input-/Output-Daten der Turing-Maschine aufgehoben haben.
17[Vis96], S. 28. sowie S. 24: ,,Mit diesem Werk [der Music for Solo Performer, Anm.] hat Alvin Lucier in der Tat einer vollkommen anderen Haltung dem Musikmachen und -hören gegenüber den Weg geebnet, die ich eine phänomenologische Haltung nennen möchte``. Der Lucier-Schüler und Improvisationsmusiker Nicolas Collins schreibt im Beiheft der CD-Aufnahme von ,,I am sitting in a room``: ,,Lucier has often been described as a ,phenomenological composer`, but to do so strips his music of much of its richness`` [Luc90].
19[Ten95], S. 16. Er nennt die Sprache von Luciers Partituren ,,Whitmanesque`` und vergleicht sie mit Haikus.
25,,Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja, das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann``, Friedrich Schlegel, Athenäums-Fragment 116.