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Auff manche Art verkehrt: Georg Philip
Harsdörffers ,,Frauenzimmer Gesprächspiele"
Florian Cramer
19.3.2004
Ein Würfel inmitten eines Rankenwerks, das den Umriß
eines gestürztes Dreiecks zeichnet, darüber die Zeile
,,Auff manche Art verkehrt"; so schließt das
,,Hauptregister" der acht Bände von Georg Philipp
Harsdörffers ,,Frauenzimmer Gesprächspielen".1 Das
Bild reflektiert sein Motto mehrfach: In seinen spiegelbildlichen,
also zueinander verkehrten Seiten, deren Symmetrie aber zum Beispiel
durch das kleine Blatt im linken oberen Winkel des Ornaments subtil
gebrochen ist, in dem Würfel, dessen Einer-Seite verkehrterweise
an die Fünfer-Seite angrenzt, anstatt ihr
gegenüberzuliegen, schließlich in der Konstruktion des
Sinnbilds als verkehrtem Emblem, dessen Subskriptio - das
Haubtregister selbst mit seiner Summe der poetischen Spiele -
über statt unter ihm steht. Die Ranken wachsen aus dem
Würfel heraus und wuchern als ein Spiel, das dieser
hervorbringt, ohne jedoch selbst Teil von ihm zu sein.
Doppelbödig ist das Sinnbild auch in seinem unmittelbaren
Bezug: Steht es für die ,,Gesprächspiele" selbst, die
1641 bis 1649 in acht Bänden erschienen? Oder für den
Autoren Harsdörffer, der in der Fruchtbringenden Gesellschaft -
der wichtigsten deutschen Sprachgesellschaft des 17.
Jahrhunderts,2 der auch die
,,Gesprächspiele" gewidmet sind - den Mitgliedsnamen ,,Der
Spielende" trug?
Wie das Emblem, ist Harsdörffers Buch ein poetisches Spiel
auf der Ebene sowohl des Signifikanten, als auch des Signifikats und
von Produktion und Rezeption, als spielerischer Text über
Spiele, der weniger gelesen, als nach- oder mitgespielt werden
muß. Von Widmungen, Registern und Nachworten abgesehen, bilden
in Dialogform geschriebene Unterhaltungen dreier männlicher und
dreier weiblicher Protagonisten die Kapitel des Buchs, von denen
jedes genau ein Spiel zum Thema hat. Neben den poetischen Spielen im
engeren Sinne gibt es solche zu fast allen klassischen und
frühneuzeitlichen Wissensgebieten einschließlich Rhetorik,
bildender Kunst, Musik, Philosophie, Logik, Mathematik und Chemie.
Doch nicht nur in der Sekundärliteratur wird vielfach darauf
hingewiesen, daß diese Form nicht originell sei, sondern
früherer romanischer Konversations- und Dialogliteratur
entlehnt, u.a. den von Théophraste Renaudot 1633 in Paris
initiierten und später publizierten ,,Conférences"
und dem Diskurs der italienischen Akademien, die Harsdörffer
selbst besucht hatte.3 Auf ihrer Titelseite deklarieren sich
Harsdörffers Gesprächspiele selbst als ,,aus
Italiänischen / Frantzösischen und Spanischen Scribenten
angewiesen".
Die ,,Gesprächspiele" importieren hiermit den
gegenuniversitären und antischolatischen Diskurs der
europäischen Akademiebewegung, der u.a. in der Gründung der
Londoner Royal Society 1662 und der Preußischen Akademie der
Wissenschaften 1700 mündete. Daß Harsdörffer
,,Frauenzimmer" im Titel anspricht und sie nicht nur als Figuren
reden läßt, sondern auch als mitspielende Leserinnen zu
gewinnen versucht, folgt dem Programm einer neuen Wissensordnung mit
der Bildung eines bürgerlichen Laienpublikums,4 ist
seit Rosmarie Zellers Studie über die Gesprächspiele auch
explizit als Projekt einer Emanzipation der Frau gedeutet
worden.5 Weiterhin voneinander geschieden sind
in den Gesprächspielen jedoch Laien- und Doktorenwissen, die als
deutscher Text mit lateinischen Appendices auch sprachlich
voneinander getrennt bleiben,6 anders übrigens als
spätere Schriften Harsdörffers und des mit ihm eng
verbündeten Sprachforschers Justus Georg Schottelius, die im
Kontext der Fruchtbringenden Gesellschaft das Deutsche als
universelle Hoch- und Wissenschaftssprache propagieren.
Harsdörffers Verbindung von Dichtung, Spiel und Wissen
erscheint zunächst konventionell, da sie auf das horazische
delectare und prodesse rekurriert. Explizit heißt es im
Vorwort, ,,weil selbige in kurtzweiligen als nützlichen
Gesprechen in Fragen und Antwort beruhen"7 Jedoch
hypertrophieren die Gesprächsspiele Horaz' Gebot, indem sie
nimmt es überwörtlich nehmen und somit zu einem
,misreading` oder, in der Terminologie des Emblems im
,,Haubtregister", zu einer Verkehrung klassischer Poetik werden.
Denn das Ergebnis ist eben kein geschlossenes Werk, sondern eine
Poesie, die selbst wiederum Poetik ist, in der also das Spiel sich
mit sich selbst kurzschließt und kontaminiert. Das Emblem
vollzieht dies seinerseits im System der Rhetorik nach, mit dem
Würfel als Findung des Materials und den Ranken als seiner
Ausschmückung, inventio und elocutio; nur daß der Ornat
die inventio überwuchert, auf rund ein Achtel der
Gesamtfläche des Bilds schrumpft und somit jedes Maß bzw.
aptum sprengt. Die inventio selbst wird zum Zufallsprinzip, das der
nicht erkennbaren Ordnung der Spiele von Band zu Band und innerhalb
der einzelnen Bücher der Gesprächspiele korrespondiert
sowie der nicht minder arbiträren Gliederung der Spiele durch
das alphabetische Register, durchbrochen nur von einer Einteilung in
,,Leichte Spiele" und ,,Schwere Spiele" unterhalb jedes
Buchstabens. Mehr als hundert Jahre vor Diderots und d'Alemberts
Enzyklopädie, die als erste nicht systematisch-hierarchisch
gegliedert war, sondern ihre Gegenstände sonder Ansehens nach
der willkürlichen Ordnung ihrer Signifikanten anordnete, wird
Harsdörffers Verzeichnis zu einem Register der Spiele, das mit
,,A B C. Spiele", ,,das Angedenken", ,,Alles oder
nichts" beginnt und mit ,,Zahlen", ,,Zergliederte
Erzehlungen", ,,Zweydeutige Wörter", ,,Spiel von der
Zeit" und ,,Zweiffelfragen" endet und heutige Lesern etwa
Peter Greenaways Film ,,Drowning by Numbers" (1988) assoziieren
läßt, der nicht nur in seinen Bildern die Nummern 1 bis
100 abzählt, sondern auch einen seiner Protagonisten, den Jungen
Smut, die quasi-wissenschaftlichen Spiele ,,Dawn Card-Castles",
,,Strip-Jump", ,,Sheep and Tides", ,,The Great Death
Game", ,,Deadman's Catch", ,,Bees in the Trees",
,,Hangman's Cricket", ,,Tug of War", ,,The Hare and
Hounds" und ,,The Endgame" spielen läßt.8
Smuts und Harsdörffers Spiele ähneln einander in
ihrer Akribie, doch allein die ,,Gesprächspiele" sind nicht
nur dem Gestus nach, sondern auch strukturell enzyklopädisch,
indem sie eine Rekursion ihres gespeicherten Wissens vollziehen, die
Lesenden also alle Werkzeuge dafür in die Hand geben, selbst
eine enzyklopädische Spielpoetik zu schreiben.9
Diese vollständige Selbstanleitung und -ansteckung des Spiels
unterscheidet Harsdörffers Text von dessen französischen
und italienischen Vorbildern und leitet sich offensichtlich von
Raimundus Lullus ab, dessen ,,besondere Lehrart" die
Gesprächspiele in ihrem fünften Teil behandeln.10 Im
Mainstream des Lullismus des frühen 17. Jahrhunderts - dessen
bekannteste Protagonisten Johann Heinrich Alsted, Marin Mersenne und
Athanasius Kircher waren - begreift Harsdörffer die lullsche
,,ars" mit ihrer Kombinatorik tabellarisch systematisierter
Prinzipien nicht als ein theologisch-rhetorisches Instrument, um
Universalfragen und -aussagen zu erzeugen und abzuwandeln11,
sondern als ein universelles Werkzeug der Generierung und
Systematisierung von Wissen. So sind die Gesprächspiele, die
zwischen Harsdörffers nicht minder lullistischen Schriften
,,Mathematische und philosophische Erquickstunden" (1636) und
,,Poetischer Trichter" (1648-53) erscheinen,12
auch als ein popularisierendes Parallelunternehmen zu Alsteds
lateinischer Enzyklopädie von 1630 lesbar.13.
So, wie Alsteds Werk seine Systematik und (nicht-alphabetische)
Gliederung durch Kombination von Generalkategorien gewinnt, die
lullsche Methode also zu ihrem Kompositionsverfahren macht,
unterscheidet auch das Emblem von Harsdörffers Haubt-Register
Anweisung von Ausführung: Der Würfel ist, analog zur
Differenz von Quellcode und Programmablauf einer Computersoftware,
algorithmischer Generator, das Rankenwerk sein Erzeugnis zur
Laufzeit. Indem die Gesprächspiele Lullismus und
Konversationsliteratur originell miteinander verknüpfen,
rücken sie Spiel und Sprache in eine gegenseitige
Abhängigkeit. Das Spiel wird in ihnen zu einem Produkt von
sprachlicher Regel und ebenfalls sprachlicher Ausführung. Die
Grundlage jedes regelhaften Spiels, so läßt sich daraus
über Harsdörffers Text hinaus schließen, ist Sprache,
und zwar - exakter definiert - formale Sprache, ohne die keine
Instruktion formulierbar ist. Das lullische Verfahren erlaubt, durch
Buchstabenindizes kombinierter Begriffe und numerische Indizes der
Kombinationsmethoden, bereits eine Abstraktion formalsprachlicher
Aussagen von der Umgangssprache und somit die Transposition von
Regelwerken in beliebige symbolische Notationen, wie nicht minder
für komponierte Musik und durch Compiler und Betriebssysteme
übersetzte Compupterprogramme gilt. Nicht formal-, sondern
umgangssprachlich und semantisch ist jedoch die Ausführung der
,,Gesprächspiele" durch ihre Protagonisten, so, wie die
nichtformale Interpretation einer klassisch-formal notierten
Musikpartitur. Da auch in einem Spiel wie Fußball sich diese
Struktur von formalsprachlicher Regel und nichtformaler
Ausführung wiederfindet, überrascht nicht, daß
Harsdörffer auch sportlichen Spielen Kapitel widmet und sie
unter dem Generaltitel der
,,Gesprächspiele"beläßt.
Von dieser Struktur eines formalen Regelwerks und seiner
nichtformalen Ausführung weichen, auch bei Harsdörffer,
solche Spiele ab, deren Ausführung ebenfalls formal ist. Zu
ihnen gehört z.B. Schach, das in einer formal restringierten
Umgebung gespielt wird (und daher von Computern besser beherrscht
wird als Fußball), oder, als formales Meta-Spiel, das
sämtliche formalen Spiele beschreiben kann,14 die Mathematik.
Auch Computerspiele sind somit, wie alle Computersoftware, formale
Systeme auf der Grundlage formalsprachlich formulierter Regelwerke.
Ihre Evolution von visuell und algorithmisch minimalistischen
Programmen seit dem ersten, 1962 am MIT entstandenen Computerspiel
,,Spacewar" zu potentiell photorealistischen audiovisuellen
3D-Simulationen ändert nichts an diesem Befund; nur
überdeckt eine zunehmende Komplexität der Algorithmen diese
Formalismen bzw. macht sie schwerer erkennbar. Zeitgenössische
Computerkünstler wie jodi15 arbeiten dieser Tendenz entgegen
und machen Computerspiele wieder als formale Systeme lesbar, indem
sie, z.B. in der auf dem Ballerklassiker ,,Doom" basierenden
Arbeit ,,Untitled Game", kommerzielle Computerspiele aller
Simulationssteuercodes entkleiden und auf das abstrakte Gerüst
ihrer Graphik oder, wie in den 2003 in Malmö ausgestellten ,,10
Programs written in BASIC ©1984", sogar auf den
bloßen Programm-Quellcode reduzieren.
Der Blick auf Computer- und Netzkunst liegt schon deshalb nicht
fern, weil Harsdörffers ,,Gesprächspiele" und
früheren ,,Erquickstunden" mit ihrer eigentümlichen
Verbindung von Algorithmik, Poesie und dialogischer Kommunikation ein
Prototyp zeitgenössischer Computernetzdichtung ist; die Grenzen
dieser Literatur zum vernetzten Computerspiel16 und dem
dialogischen Wissenaustausch auf Mailinglisten und Web-Foren sind
ihrerseits fließend. Doch widersprechen sich Harsdörffers
und Jodis Poetiken entscheidend in ihren Verfahren einerseits der
Ausdehnung und andererseits des Rückbaus. Jodi begreifen
algorithmische Spielregeln eben nicht als Potential, sondern als
eingeschriebene Restriktion. Als ,,contraînte",
künstliche Einschränkung, statt als Universalprinzip
begreifen auch die französischen Oulipo-Dichter ihre Poetik,
obwohl sie mit Lipogrammen, Sestinen und Transliterationen bruchlos
an frühneuzeitlichen Poetiken anknüpfen und eines ihrer
Gründungsdokumente, François le Lionnais' Nachwort
,,À propos de la littérature expérimentale"
zu Raymond Queneaus ,,Cent mille milliards de poèmes" von
1961,17 sogar einen wortkombinatorischen
Proteusvers aus Harsdörffers ,,Erquickstunden" zitiert.
Scheinbar gegen ein Verständnis von ,,Spiel" als
etwas künstlichem etymologisiert Harsdörffer das Wort als
Onomatopöie fließenden Wassers.18 Vor allem jedoch wird
,,Spiel" sondern auch als Wort selbst zu einem Spiel und, - im
Sinne von Schottelius` zeitgleich publizierter Sprachtheorie - zu
einem ,,Stammwort", in dem Signifikant und Signifikat eine
Einheit bilden. Künstlich sind die ersten beiden der ,,dreyerley
Quellen", aus denen Protagonist Vespasian alle Spiele ableitet:
,,I. Von den Künsten [...], II. Von gewisser Begebenheit /
Geschichten / Erzehlungen / Fragen und Antworten / etc. [...], III.
Von denen Sachen / welche wir für Augen sehen / als da ist von
den Blumen / von Wein / Wax / etc."19. Im Emblem des
,,Haubtregister" schließlich dreht sich die Ordnung der
Dinge und geht Natur aus dem Künstlichen hervor, wenn die Ranken
aus dem Würfel wachsen. ,,Auff manche Art verkehrt"
Fußnoten
1Georg Philipp Harsdörffer,
Frauenzimmer Gesprächspiele, Faksimile hrsg. v. Irmgard
Böttcher, Tübingen: Niemeyer, 1969
2s. Karl F. Otto, Die
Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts, Stuttgart: Metzler, 1972
sowie Herzog August Bibliothek (Hrsg.), Im Garten der Palme.
Kleinodien aus dem unbekannten Barock: die Fruchtbringende
Gesellschaft und ihre Zeit, Berlin: Akademie Verlag, 1992
3s. Theodor Verweyen, Georg Philipp
Harsdörffer - ein Nürnberger Barockautor im Spannungsfeld
heimischer Dichtungstraditionen und europäischer Literaturkultur
(II), http://www.phil.uni-erlangen.de/~p2gerlw/ressourc/hars2.html,
Irmgard Böttcher, Zum Neudruck, in: Georg Philipp
Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, hrsg. von Irmgard
Böttcher, I. Teil, Tübingen: Max Niemeyer, 1968, S. 4f.
4Vgl. Herbert Jaumann, Die Kommunikation
findet in den Büchern statt. Zu Harsdörffers
Literaturprogramm in den Gesprächspielen, in: Georg Philipp
Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer
Gelehrter, hrsg. von Italo Michele Battafarano, Bern, Berlin u.a.:
Peter Lang, 1990, S. 171
5Vgl. Rosmarie Zeller, Spiel und
Konversation im Barock, Berlin und New York: de Gruyter, 1974,
S.61ff., Abschnitt ,,Die Emanzipation der Frau", Christl
Grieshaber-Weninger, Harsdörffers ,,Frauenzimmer" [...]
6Vgl. Jaumann, a.a.O. Die
Gesprächspiele sind Harsdörffers erste
Veröffentlichung in deutscher Sprache.
7Vgl. Zeller, S. 113f.,,Spielobjekt im
Falle der Gesprächspiele ist einerseits die Sprache,
andererseits das Wissen jeglicher Art."
8nach der Dokumentation auf der Website
http://www.wayney.pwp.blueyonder.co.uk/games.htm
9Vgl. Wau Holland, Meinungsfreiheit -
das wichtigste Grundrecht http://www.trend.partisan.net/trd1098/t021098.html:
,,Die erste rekursive Sammlung des Wissens war die Enzyklopaedie
[sic] von Diderot und d'Alembert."
10Vgl. Jaumann, a.a.O., S.175
11vgl. Umberto Eco, Die Suche nach der
vollkommenen Sprache, München: Hanser, 1994, S. 75
12Beide Schriften enthalten z.B. eine
kombinatorische Systematisierung der deutschen Lexik in Gestalt eines
,,Denckrings", mit dessen fünf beweglichen konzentrischen
Kreisen Morpheme idealiter (jedoch nicht tatsächlich)
sämtliche Wörter der deutschen Sprache ermittelt werden
können
13Johann Heinrich Alsted, Encyclopaedia,
Stuttgart 1989 (Herborn 1630)
14Mit der von Gödel bewiesenen
Ausnahme
15http://www.jodi.org
16wie in den ,,Multiuser Dungeons"
(MUDs) oder textdialogischen Spielen wie dem 1980 entstandenen
,,NetHack"
17François le Lionnais, À
propos de la littérature expérimentale, in: Georges
Perec, Oeuvres complètes, Paris: Gallimard, 1989, Bd. 1, S.
345-347
18Ausführlich diskutiert in Zeller,
a.a.O., S. 115
19Harsdörffer, a.a.O., Bd. 1, S.460